Ein gutes Herz (German Edition)
er vermisste alle, die er je liebgehabt hatte, und wusste zugleich, dass er sie alle nun wissen ließ, dass sie unter seinen Fittichen Schutz suchen konnten.
23
NATHAN
Ich lag schon im Bett, als Mama und Leon nach Hause kamen. Ich hörte sie in der Küche reden. Mittags hatte Mama sich noch furchtbar mit ihm gestritten, und jetzt war alles wieder gut. So war das bei Erwachsenen. Gerade hatten sie sich noch gestritten, und schon küssten sie sich wieder.
Das Komische war, dass ich einfach durchschlief, die ganze Nacht. Als ich ins Bett gegangen war, war ich ganz aufgekratzt gewesen, weil ich zu Lias Party durfte. Aber ich wurde nachts nicht wach. Leon weckte mich morgens, und da wusste ich, dass er bei uns geblieben und nicht zu sich nach Hause gegangen war. Ich fragte ihn, ob er und Mama noch Streit hätten, aber er sagte, dass alles wieder in Ordnung war und sie sogar etwas Großes beschlossen hatten. Aber das würde Mama mir selbst erzählen.
Sie waren beide schon angezogen, als ich in die Küche kam. Leon hatte die Zeitung vor der Nase, und das Radio war an. Sie wollten mich beide zusammen zur Schule bringen, mit dem Fahrrad. Das kam so gut wie nie vor. Meistens blieb einer von beiden zu Hause und ging wieder ins Bett, wenn ich gefrühstückt hatte.
»Hast du etwas von den Nachrichten mitbekommen, Naat?«, fragte Leon.
»In der Stopera hat es eine Explosion gegeben, und ein Flugzeug wurde gekapert. Ich hab das Feuer gesehen, gestern. Ich war auf der Brücke am Muntplein.«
»Du bist dort gewesen?«, fragte Leon neugierig.
»Ja«, sagte ich, »als ich abgehauen bin.«
»Dass du das ja nie wieder machst«, sagte Mama natürlich gleich wieder.
»Hat es viele Tote gegeben?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete Leon. »Und das entführte Flugzeug ist abgeflogen. Mit dem Mörder von Theo van Gogh an Bord. Weißt du, wer das ist?«
Ich fragte: »Ist das dieser Maler?«
»Er weiß natürlich nicht, wer das ist«, sagte Mama mit einem Blick zu mir. Sie schmierte mir gerade Pausenbrote.
Leon erklärte, dass dieser Theo van Gogh ein anderer war als der Maler. Und er sagte auch, dass dieser Theo van Gogh ihn, Leon, gehasst hatte. Ich hatte noch nie von diesem Mann gehört und auch nie einen Film von ihm gesehen. Und das interessierte mich eigentlich auch alles nicht. Ich wusste nicht, wieso irgendwer Leon hasste. Vielleicht hatte dieser van Gogh ja einen Grund dafür gehabt. Vielleicht war Leon irgendwie blöd zu ihm gewesen. Jedenfalls war dieser Theo ermordet worden. Ich würde das mal googeln, wenn ich morgen Zeit hatte. Heute hatte ich keine Zeit. Nach der Schule würde ich mit zu Lia nach Hause gehen, da würden wir eine Party feiern, und ich war der einzige Junge. In meinem Rucksack war das Geschenk für sie. Die Uhr. Ich hatte sie wieder eingepackt.
Ich bekam einen Teller Haferflocken mit braunem Zucker, und ich bekam meine Pausenbrote und ein Päckchen Bio-Apfelsaft zum Mitnehmen, wie immer. Leon machte den Fernseher in der Küche an (wir hatten einen kleinen LCD -Fernseher an der Wand über dem Esstisch). Im Fernsehen war Eva zu sehen – ich kannte sie, weil wir schon mal mit ihr und Bram essen waren. Sie redete mit Männern in grauen Anzügen, und zwischendrin sah man Bilder von einer Boeing 737 und eine gestrichelte Linie, die zeigte, wie das Flugzeug geflogen war. Gähn, gähn! Es wurden auch Bilder von der Stopera gezeigt. Das sah schon schlimm aus. Die ganze Vorderseite war eingestürzt. Jede Menge Leute waren dort noch bei der Arbeit. Jetzt standen auch Kräne da. Überall waren Polizisten und auch Soldaten. Eva weinte fast, als sie darüber redete.
Am wichtigsten war: Wir waren nicht weg. Wir waren noch zu Hause in Amsterdam. Da kann man überall mit dem Rad hinfahren, und wenn man sechzehn ist, darf man Bier trinken, und wenn man achtzehn ist, kann man Joints rauchen. Ich weiß viel über solche Sachen, weil ich viel google. In den Niederlanden ist alles erlaubt. Das ist voll cool. Und es gibt einen Feiertag, der Königintag heißt, und es gibt den Albert Cuypmarkt, und man kann mit seinem eigenen Boot auf den Grachten herumfahren.
Dann sagte Mama: »Naat, Leon und ich haben gestern Abend lange geredet. Und wir haben beschlossen, dass Leon zu uns zieht. Wenn du damit einverstanden bist. Deine Stimme zählt auch.«
»Ja?«, sagte ich. »Ziehst du wirklich zu uns, Leon?«
»Ja, das möchte ich gern. Wenn deine Mama es auch möchte…«
»Ja, ich möchte es«, sagte Mama.
»Und wenn du es
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