Ein gutes Herz (German Edition)
erwachsen. Muslime feierten keine Geburtstage, aber sein Vater hatte nie ein Problem mit dem holländischen Geburtstag gehabt. Er hatte daran festgehalten, bis er in den Knast kam. Torte mit Kerzen – die Bilder kehrten wieder. Sallie hatte ihm vor sechs Jahren eine Armbanduhr geschenkt. Ein Plastikding, das er auf dem Markt gekauft hatte, an einem Stand, wo es lauter Restposten gab. Eine Armbanduhr in Herzform. Hätte im Laden neunzig Euro gekostet, behauptete der Mann am Stand, aber Sallie könne sie für zehn Euro bekommen. Zu dessen einundzwanzigstem Geburtstag hatte der Mörder seinen Sohn mit einem Geschenk für Erwachsene, mit etwas Verbotenem überraschen wollen: einem automatischen Gewehr. Nicht irgendeinem, sondern einem der besten Maschinengewehrtypen der Welt. Sah er in Sallie seinen Nachfolger? Warum eine Waffe? Er saß als Unterweltmörder im Knast und ließ seinem Sohn eine Waffe bringen. Sallie trug sie jetzt bei sich. Vor zwei Jahren hatte er in einem Depot seines Vaters in Luxemburg eine ganze Kiste voller Waffen gesehen. Das Depot hatte sein Vater bei einem amerikanischen Unternehmen gemietet, das in riesigen Hallen Container in sämtlichen Größen vermietete. Das Unternehmen hatte Niederlassungen in den Niederlanden, Deutschland, Belgien und Luxemburg. Hinter der Fußleiste unter seinem Bett hatte Sallie den Schlüssel gefunden. Sure Storage, der Name der Firma, war in den Schlüsselgriff eingraviert, neben der Nummer. In Sallies Zimmer. S.A. stand hinter dem Firmennamen, Société Anonyme. Als sein Vater noch auf freiem Fuß war, vor zwölf Jahren, durfte Sallie ihn einmal nach Luxemburg begleiten. Er erinnerte sich an ein nüchternes weißes Gebäude mit großen roten Buchstaben auf den fensterlosen Mauern. Sein Vater hatte dort einen vier mal vier Meter großen Raum voller Kisten und Metallkoffer. Sallie erinnerte sich nicht, was sein Vater dort gemacht hatte, aber er wusste noch, dass er einen dicken braunen Umschlag von dort mitgenommen hatte. Sie hatten was Leckeres gegessen, in einer Stadt mit kleinen Gassen und schmalen alten Fachwerkhäusern und einer Burg hoch auf einem Berg, ein bisschen so, wie er sich Disneyland vorstellte. Vor zwei Jahren war er allein dorthin gefahren. Schusswaffen. Dollarscheine im Wert von Hunderttausenden. Uhren. Schmuck. Und Papiere, Skizzen und Pläne. Die interessierten ihn, weil sie rätselhaft waren. Das Geld und die Waffen hatten nichts Geheimnisvolles an sich. Die Papiere schon. Sie bezogen sich auf ein Bankgebäude in Amsterdam-Süd. Das stand neben einer Schule. Die Schule stand auf einem alten Fundament, das früher Teil der Verteidigungsanlagen rund um Amsterdam gewesen war, derentwegen die Gebiete südlich der Stadt bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein unbebaut blieben. Im Süden der Weteringschans gab es damals nichts als Weideflächen und Bauernhöfe. Durch das Kanalisationsnetz konnte man in den Keller der Schule gelangen. Und wenn man in diesem Keller war, konnte man an einem langen Wochenende, an Ostern oder Weihnachten zum Beispiel, Löcher in das Fundament der Bank bohren und die Schließfächer ausräumen. Solche Hirngespinste hatte sein Vater im Kopf gehabt. Ob er diese Träume mit seinem Kumpanen Kohn geteilt hatte, dem Unterweltjuden, dem er Jahre seines Lebens geopfert hatte? Es hatte Sallie einige Wochen gekostet, die Skizzen und Pläne zu begreifen. Und sie kamen ihm zupass, als sie ihre große Reise verwirklichen wollten. Sie hatten den idealen Zugang zu der Schule gefunden, über ein Kanalisationsrohr, in das man am Rande des Vondelparks hineingelangte und das unter der Van Baerlestraat hindurch Richtung Concertgebouw verlief. Eine der vielen Abzweigungen führte an dem Schulgebäude in der Alexander Boersstraat entlang. Auf der Ostseite grenzte die Schule an die Bank, deren Haupteingang an der Van Baerlestraat lag. Die Bank interessierte ihn nicht. Ihm ging es um die Schule. Dieser unglaublich dämliche Frits! Hatte die Freilassung seines Vaters gefordert, weil er dachte, dass er ihm damit das größte Geschenk seines Lebens machte. Fünf Minuten später hatten die Juden bei seiner Mutter angeklopft. Und bei allen anderen Jungs zu Hause. Ihre Köpfe waren jetzt in allen Streifenwagen auf dem Bildschirm. Frits hatte den Juden praktisch alle ihre Namen durchgegeben. Aber sie ließen sich jetzt nicht mehr stoppen. Die Waffen, die Masken, die Handys, alles lag in der Kanalisation bereit. Sie waren zu fünft. Um halb sechs Uhr
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