Ein gutes Herz (German Edition)
fragte ihn mit vermeintlich ernster Miene, aber einem Blick, der verriet, dass er es scherzhaft meinte: »Wann gehst du ins Kloster, Max?«
Kohn musste über die Bemerkung lachen, obwohl – oder gerade weil? – er gegenwärtig überall um sich herum Güte wahrzunehmen schien.
Wenn er ein Mädchen einem Jungen liebevoll mit den Fingern über die Wange streichen sah. In der Handbewegung, mit der eine Mutter ihrem Söhnchen ernst und sorgsam das Haar aus der Stirn strich. Wenn ein Punk-Mädchen mit lilafarbener Igelfrisur und Piercings in Lippen und Nase im Vorübergehen etwas aufhob, das jemand verloren hatte, und es dem Eigentümer rasch wiedergab. In Menschen, die hilfsbereit herbeirannten, als ein alter Mann eine volle Einkaufstasche fallen ließ und seine kostbaren Lebensmittel über die Straße rollten. Wenn ein Krankenwagen mit heulender Sirene unterwegs war, um jemandem das Leben zu retten. In einer Abschiedsszene am Flughafen. In Musik, vor allem, wenn die Musiker jung waren, Kinder, die sich der Schönheit weihten. Wenn in einer Spielshow im Fernsehen jemand Glück hatte oder jemand in einem Talentwettbewerb unter Beweis stellte, dass er wundervoll singen konnte. Beim geringsten Anlass kamen ihm die Tränen. Bei Organempfängern keine Seltenheit.
Alles war heilig. Alles strahlte Licht aus.
Er zog Kichie an sich und küsste ihn gerührt auf die Wange. Kichie ließ es zu und erwiderte den Kuss.
Darauf sagte Kohn: »Lieber Freund. Ich möchte dir helfen. Aber ich komme nicht mit. Ich werde nichts tun, was mit dem Auftrag, den Jimmy mir erteilt hat, unvereinbar ist. Ich muss dich enttäuschen. Ich bleibe hier. Ich kann nicht tun, um was du mich bittest.«
21
SALLIE
Dieser Mistkerl. Dieser unglaubliche Hornochse. Zwei Jahre Vorbereitung, und dann einen derart schwachsinnigen Fehler machen. Jedes Detail hatten sie besprochen. Sämtliche Szenarien durchdacht, und dann beging er bei der Ausführung eine Dummheit, die das ganze Vorhaben untergraben konnte. Frits – ihr Messi, er würde später auch auf dem ausgetrockneten Boden von Tadschikistan brillieren –, der für den Ablauf im Flugzeug zuständig war, hatte sich heimlich etwas ausgedacht, um Sallie eine Freude zu machen. Ein Geschenk. Eine Überraschung. Sie würden nicht nur die Freilassung von Mohamed B. fordern, sondern auch die von Kicham O., Sallies Vater.
Auf dem Fußballplatz konnte Frits alles, weil er nicht nur über eine fabelhafte Ballbeherrschung verfügte, sondern auch über eine fabelhafte Vorstellungskraft – oder steckte diese Vorstellungskraft in seinen Beinen, ging alles, was er auf dem Rasen zustande brachte, eher von seinem Körper aus als von seinem Geist? Sie hatten keinen Kontakt gehabt, weil jetzt jeder Kontakt verboten war. Aber sie hatten über Polizeifunk gehört, welche Forderungen die Entführer stellten. Er hätte Frits krankenhausreif schlagen sollen, als er wieder bei der Stopera aufgetaucht war, obwohl er ihn zu seinem kleinen Bruder nach Hause geschickt hatte. Jungs wie Frits waren für eine straffe Organisation einfach zu sprunghaft. Er war trotz allem zum Treffpunkt gekommen, einer Garage im westlichen Hafengebiet. Dort hatten alle elf Mitglieder der Gruppe, ob gläubig oder nicht, ein Gebet gesprochen. Und dann hatten sie sich angehört, was im Radio berichtet wurde. Von dem Treffpunkt aus waren sechs von ihnen nach Schiphol gefahren und hatten das Flugzeug in ihre Gewalt gebracht. Das hatte Frits vorbildlich gemacht. In der Stopera hatte es Tote gegeben. Keine Kinder. Zum Glück keine Kinder. Alle waren sich dessen bewusst, wie ernst das war, was sie getan hatten. Sie konnten nicht mehr zurück. Wenn sie gefasst wurden, würden sie alle lebenslänglich kriegen. Sollte es so weit kommen, würde Sallie, das hatte er sich vorgenommen, die ganze Schuld auf sich nehmen und erklären, dass er die anderen mit Hasspredigten und Videos von Enthauptungen aufgestachelt habe. Aber wenn er die Gelegenheit dazu bekam, würde er sich das Leben nehmen. Suicide by cop, hieß das in Amerika. Er würde, mit seiner schweren Heckler & Koch im Anschlag, gegen eine Mauer auf ihn schießender Polizisten in den Tod laufen. Sein Vater hatte ihm die Waffe zum Geschenk gemacht, mittels dieses Berbers aus der Unterwelt, der ihn nach dem Training abgefangen hatte. Warum? Als Initiationsritual? Erst jetzt ging ihm auf, dass die Waffe ein Geburtstagsgeschenk gewesen war. Dieser Verrückte! Zu seinem einundzwanzigsten. Damit war er offiziell
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