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Ein gutes Herz (German Edition)

Ein gutes Herz (German Edition)

Titel: Ein gutes Herz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon de Winter
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auf die Uhr über der Tür, weil ich wollte, dass die Zeit schnell rumging. Um genau Viertel nach neun ist es passiert.
    Es klang wie im Film, ganz genau so. Nein, nicht ganz genau so. Die Geräusche waren kürzer. In Filmen ist das immer total laut. Aber in echt nicht. In echt klingt es nur wie tick-tick-tick. Irgendwie ganz trocken. Trocken, das Wort ist mir dazu eingefallen. Nichts Besonderes. Ich wusste trotzdem gleich, was es war. Schüsse. Aus einem Gewehr. Sie kamen schnell hintereinander, es musste also ein »automatisches Gewehr« sein. Ich interessiere mich echt für Waffen. Wahrscheinlich genauso wie mein biologischer Vater. Das muss ich von ihm geerbt haben. Ich bin kein Ganove und will auch keiner sein, aber ich bin trotzdem sein Sohn, und deshalb habe ich auch etwas an mir, was ich von ihm haben muss.
    Jemand hatte geschossen. In unserer Schule. Marga blieb stocksteif stehen. Sie wusste nicht gleich, was das für ein Geräusch gewesen war. Außer mir wusste das wohl keiner in der Klasse.
    Wir blieben still sitzen. Wir atmeten ganz leise, weil wir unsere Ohren nicht stören wollten.
    Und dann noch einmal so ein Tick-tick-tick.
    Marga guckte ganz verwirrt. Dann sah sie uns an, ihr Blick schoss kreuz und quer durch die Klasse. Und sie legte einen Finger auf den Mund.
    Wir rührten uns nicht. Keiner sah sich um – außer mir. Und Lia. Wir guckten uns kurz an. Ich musste Lia beschützen, wenn etwas passierte.
    Wir hatten Angst, weil Marga Angst hatte. Sie blinzelte ganz aufgeregt. Und sie hechelte fast.
    Dann machte sie eine Bewegung mit beiden Händen, dass wir uns auf den Fußboden setzen sollten.
    »Unter die Tische«, flüsterte sie und guckte dabei auf den Flur raus und spitzte die Ohren.
    Wir krochen unter die Tische. Keiner sagte ein Wort. Man hörte nur ein leises Rascheln.
    »Kniet euch alle hin«, sagte Marga. »Köpfe runter. Keiner bewegt sich.«
    Wo hatte Marga das gelernt? Sie schlich sich leise zur Tür. In der waren drei große Glasscheiben, durch die man den Flur und die Garderobe mit unseren Jacken sehen konnte. Wir hörten schnelle Schritte im Treppenhaus. Da hallte es immer ganz laut, weil alles aus Stein war. Wir waren die 5 B , neben uns war die 5 D . Die war direkt neben der Treppe.
    Dann knallten wieder Schüsse. Fünf oder sechs. Und dann hörten wir Schreie. Unter uns, in anderen Klassen, schrien Kinder. Aber man hörte auch die Stimmen von Erwachsenen.
    »Ruf einen Krankenwagen!«, schrie jemand. Das war eine Lehrerin, Renée. Die hatte eine total laute Stimme. Wo war sie? Ganz unten im Treppenhaus?
    »Still! Still!«, riefen andere Stimmen.
    Und plötzlich war es wieder still. Bei uns hatte keiner einen Mucks gemacht.
    Dann hörten wir, wie die Tür von der 5 D aufgemacht wurde.
    »Keinem passiert was«, hörten wir einen Mann sagen.
    Die Stimme kannte ich nicht. Mein Herz klopfte wie wild.
    »Tut, was ich sage. Lasst alles liegen. Wir gehen nach unten. Ganz ruhig. Sie auch, Frau… Wie heißen Sie?«
    Wir hörten die Lehrerin sagen: »Ingeborg de Jong.«
    »Wenn Sie tun, was ich sage, Frau de Jong, wird keinem was passieren. Okay? Führen Sie die Kinder nach unten. Dort erhalten Sie weitere Instruktionen. Keine Handys mitnehmen. Dann wird keinem ein Haar gekrümmt.«
    Wir konnten alles hören, wie wenn die Wände aus Papier gewesen wären. Normalerweise hört man kaum was von der Klasse nebenan, aber jetzt war alles klar und deutlich zu verstehen, wie wenn unsere Ohren plötzlich schärfer hören konnten. Und dann kam jemand zu uns rein. Ein Mann mit einer schwarzen Mütze mit Löchern für Augen und Mund über dem Gesicht. Er trug eine M 16, das Modell kannte ich. Er war ganz in Schwarz, schwarze Stiefel, schwarze Hose, schwarze Jacke. Und dazu das schwarze Gewehr. Das riesige schwarze Gewehr. Marga machte ein paar Schritte zurück und streckte die Hände aus, dass der Mann ihr nicht zu nahe kommen sollte.
    »Keinem passiert was«, sagte der Mann. »Tut, was ich sage. Lasst alles liegen. Wir gehen nach unten…«
    Genau wie in der 5D . Er sagte natürlich in jeder Klasse dasselbe. Seine Stimme klang jung. Und er hatte einen Akzent. Ich wusste auch, was für einen. Was wollten die von uns? Wir waren doch nur die vsv, die Vondel School Vereeniging. Was hatten wir mit der Stopera oder Flugzeugentführungen zu tun oder mit diesem van Gogh, der kein Maler gewesen war und Leon gehasst hatte?
    Ich hoffte, dass alles vorüber sein würde, bevor die Schule aus war. Lia wollte doch ihren

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