Ein gutes Herz (German Edition)
Schulkinder freizubekommen. Das ist der Grund.«
»Nächstenliebe?«, fragte Donner, selbst davon überrascht, wie schnell er den Eindruck gewann, dass Kohn integer war.
»Wenn ich die Gelegenheit dazu bekomme, werde ich es Ihnen eines Tages erklären. Kicham und ich werden in diese Schule hineingehen.«
»Schön«, sagte Donner.
Seine Gedanken schweiften kurz ab, einen Moment lang sah er Charlotte vor sich, und ihm fielen zwei Zeilen aus einem anderen Shakespeare-Sonett ein:
A woman’s face with Nature’s own hand painted
Hast thou, the master-mistress of my passion…
MEMO
An: Minister J. P. H. Donner
FOR YOUR EYES ONLY
Kennzeichen: Three Headed Dragon
Sehr geehrter Herr Minister,
es gelingt mir zum jetzigen Zeitpunkt nicht, das vorliegende Dossier mit einer eindeutigen Schlussfolgerung in Bezug auf den Lichtinzident ( LI ) abzuschließen. Versuchsanordnungen und Tests haben ergeben, dass eine Reflexion auf der glatten Oberfläche der betreffenden Lokalität niemals die Dauer und Intensität des LI hätte haben können, wie sie von den Zeugen beschrieben wurden. Ich möchte unterstreichen, dass die Wahrnehmung des LI beide Zeugen dazu bewog, die Eingangshalle sofort zu verlassen. Der LI hat ihnen gleichsam das Leben gerettet, wie auch allen anderen. Jedenfalls haben beide es so erklärt. Ein lebensrettender LI . Das klingt melodramatisch, aber beide Zeugen halten an dieser Gewichtung ihrer Erklärung fest.
Ich möchte klarstellen, dass ich diese Untersuchung gerne mit einem anderen Ergebnis abgeschlossen hätte. Doch ich muss auch gestehen, dass mich das Ganze fasziniert hat. Ist es möglich, dass der LI wie aus dem Nichts entstanden ist? Alle Wissenschaftler haben mir gesagt, dass das undenkbar sei. Undenkbar, wenn man vom menschlichen Auge und unserer Wahrnehmung und Erfahrung ausgeht. Auf der Ebene der Quantenmechanik aber gelten andere Regeln. Regeln, die wir akzeptieren, aber nicht verstehen. Diese Diskussion kann ich nicht führen, da es mir an den nötigen Kenntnissen fehlt. Einige Experimentalphysiker, die ich gesprochen habe, sagten mir, dass wir erst am Beginn der großen Entdeckungen im Bereich der Elementarteilchen stehen. Es sei möglich, meinten sie, dass wir eines Tages entdecken, wie wir Dimensionen betreten können, die ein eigenes Universum bilden. Das ist für mich ein Gebiet, zu dem ich keinen Zugang habe.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Zeugen eines Tages öffentlich über den LI äußern werden, der für beide eine ans Religiöse grenzende Erfahrung war. Ich gehe zwar davon aus, dass sie ihre Eindrücke für sich behalten werden – aber sollten sie doch in die Medien gelangen, dürften sie als, sagen wir mal, Hirngespinste von Träumern abgetan werden.
Von meinen Memos gibt es keine Kopien.
Mit freundlichem Gruß
Frans van der Ven
29
THEO
Er war gerüstet, er hatte seine Ausbildung abgeschlossen, und er war davon überzeugt, dass er seine Arbeit sorgsam ausführen würde. Aber die Aufgabe, die ihn erwartete, machte ihn auch unsicher. Und als spüre Jimmy Davis das – natürlich spürte er das, er spürte alles, was Theo beschäftigte –, klopfte er bei Theo an und nahm an dem Tischchen im Kasernenzimmer Platz, an dem Theo immer saß, wenn er rauchte und soff. Gleichzeitig behielt Theo da unten bei den Lebenden Max Kohn im Auge.
Theo war in seinem Zimmer und zugleich bei Kohn und flog dabei mit seinen Flügeln aus den feinsten Daunen um ihn herum, klein wie ein Molekül, groß wie eine Wolke. Er folgte ihm auf seinem Weg in die VSV , durch einen am Vondelpark gelegenen Zugang zur Kanalisation. Wie das möglich war, diese Gleichzeitigkeit, begriff Theo noch immer nicht. Aber es war möglich.
»Ist es jetzt so weit?«, fragte Theo, froh, dass Jimmy ihm Gesellschaft leistete. Seine Federn raschelten kurz.
»Das weiß man nie«, antwortete Jimmy, wie immer picobello im schwarzen Anzug und Seidenhemd.
»Und wenn es mir gelungen sein sollte, meine Arbeit zu tun… Wohin komme ich dann?«
»Das weiß ich nicht, Theo. Ich bin nie dort gewesen. Ich weiß, was man sich darüber erzählt, genau wie du, aber wenn man einmal dort ist, kehrt man nie mehr zurück. Heute nimmst du Abschied vom Leben.«
»Du machst Witze, Jimmy. Ich bin schon seit 2004 tot.«
»Du nimmst Abschied von den Menschen, von der Erde. Das geschieht heute.«
»Ich weiß nicht, ob ich mich über diese Antwort freue, Jimmy.«
»Du bist nicht der Erste, der das sagt, aber das verläuft alles
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