Ein gutes Herz (German Edition)
vor Kohn dran waren, ihr Herz bekommen hatten. Ich wollte unbedingt, dass Kohn mein Herz bekommt. Und das haben die Spezialisten der Mayo Clinic hingekriegt.«
»Dadurch schlägt dein Herz jetzt wieder in unmittelbarer Umgebung deiner großen Liebe«, sagte Theo.
»Ja.«
»Wenn er sie küsst, küsst du sie.«
»Ja.«
»Wenn sie miteinander schlafen, schläfst du mit ihr.«
»Ja.«
»So bist du also, obwohl du hier bist, auch dort bei den Lebenden, ihretwegen.«
»Ja«, sagte Jimmy.
»Bist du so verrückt nach ihr, dass du sie nicht einmal im Tod vergessen kannst? Und das wusstest du schon, als du noch unten warst, als du wusstest, dass du sterben würdest?«
»Hättest du das nicht für die Frau deines Lebens getan? Hättest du nicht auch im Tod auf sie gewartet?«
»Doch. Das hoffe ich, Jimmy. Aber ich habe diese Chance verpasst. Du nicht… Das ist schön, Jimmy. Ich wünschte, ich könnte einen Film darüber machen.«
»Das geht. Vielleicht in der nächsten Phase, wenn du weiter bist.«
»Und deine beiden Kinder?«
»Um die kümmert sich Kohn. Es war klar, dass er für sie sorgen würde, sowie er von ihnen erfuhr, das konnte gar nicht anders sein. Zumindest, wenn er das Ganze überlebt.«
»Wow, Mann, du hast ja einiges vorbereitet!«
»Es ist noch nicht vollbracht, Theo.«
»Nein. Also ich komme nachher weiter?«, fragte Theo noch einmal wehmütig.
»Ja, dies sind deine letzten Momente hier in der Aufnahme, in deinem Zimmer.«
»Ich hatte mich richtig daran gewöhnt, verrückt, nicht?«
»Nein, das ist nicht verrückt, Theo.«
Theo spürte ein Vibrieren in seinen Flügeln, als wollten sie ihn dazu aufrufen, sich an die Arbeit zu machen. Er, Theo van Gogh, hauptamtlicher Schutzengel, würde seiner Berufung folgen; je stärker er seine Flügel spürte, desto größer wurde die Überzeugung, dass er jetzt Abschied nehmen und weitergehen konnte, irgendwohin, wo die hoffnungslose Sehnsucht nach seinem Sohn und seinen Eltern und Verwandten und Freunden sich in etwas anderes auflösen konnte.
»In Licht«, ergänzte Jimmy Davis ihn. »Es löst sich in Licht auf.«
Was auch immer, dachte Theo. Jimmy nennt es Licht, Gott weiß, wie ich es nennen werde.
Und dann war er bei Max Kohn, auf dessen Schulter, um dessen Kopf herum, auf dessen Fingerspitzen. Theo ging mit Kohn in das dunkle Kanalisationsrohr hinein, einen Betonköcher, der groß genug gewesen wäre, um als U-Bahn-Röhre zu dienen. Ouaziz und Kohn trugen Rucksäcke und hatten sich zweckmäßig gekleidet. In Gummianzügen mit hohen Stiefeln wateten sie durch Fäkalien und Schlamm, durch Fäulnis und Gestank. Die Männer hielt das nicht zurück, und Theo genauso wenig. Wo er war, gab es keinen Ekel vor dem Menschlichen. Zersetzung, Ausscheidungen, Blut, nichts stieß ihn ab.
Die Männer hatten Taschenlampen bei sich und folgten einer Route, die sie zu einer schweren Metalltür in einer Abzweigung des Rohrs führte. Diese Abzweigung war gemauert. Es handelte sich um den Fluchtgang eines geplanten Forts im historischen Verteidigungswall um Amsterdam, der heute zum Weltkulturerbe der UNESCO gehörte. Die Angeln der Tür waren unlängst geschmiert worden, und sie ließ sich leicht öffnen.
Theo wusste, dass Kohn dachte: Die Jungen haben ihr Eindringen in die Schule bis in alle Einzelheiten vorbereitet.
Hinter der Tür befand sich ein senkrechter Schacht. Ouaziz zog sich an den Eisenbügeln, die an der Schachtwand angebracht waren, hoch und konnte dann darauf nach oben steigen. Kohn folgte ihm. Wie auch Theo, der nicht zu klettern brauchte.
Der Schachtdeckel ließ sich leicht beiseiteschieben. Kein Schloss. Sie krochen aus dem Schacht hinaus und standen in einem dunklen Kellerraum.
Das Licht der Taschenlampen glitt über ausrangierte Tische und Stühle, die an den Wänden aufeinandergetürmt waren, alles mit einer Staubschicht bedeckt. Plastikboxen, mit Aufklebern versehen, auf denen zum Beispiel Verwaltung Schuljahr 1973/74 stand. Alte Computerbildschirme.
Auf dem Fußboden lagen die Gummistiefel und die Schutzanzüge, die die Jungen getragen hatten. Still und leise entledigten sich Kohn und Ouaziz ihrer Stiefel und Anzüge und zogen an, was sie aus ihren Rucksäcken hervorholten: blaue Hose, blaues T-Shirt, blaue Jacke – Sachen aus der Kleiderkammer der Grenzpolizei. Der Knopf auf der einen Brusttasche war das Objektiv einer winzigen Kamera. Der Knopf auf der anderen Brusttasche war der Sender.
Theo fragte: »Habt ihr keine Waffen
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