Ein gutes Herz (German Edition)
dabei?« Aber sie hörten ihn nicht.
Die Männer umarmten sich und blieben einige Sekunden lang reglos so stehen, als verharrten sie im Gebet.
Kohn flüsterte: »Sonja hat mich gefragt… Ihr Vater wurde nie gefunden. Sollte ich wissen, wo er ist?«
»Nein«, sagte Ouaziz. »Das wirst du nie erfahren.«
»Das ist hart für sie.«
»Es ist am besten so, Max. Glaub mir.« Sie standen immer noch in enger Umarmung da.
Ouaziz flüsterte: »Ich muss dir etwas sagen, Max.«
»Nur zu…«
»Ich habe nicht mehr viel Zeit… Ich werde sterben. Krebs, Bauchspeicheldrüse. Ein paar Monate noch, ein halbes Jahr vielleicht. Könntest du bitte meiner Familie beistehen?«
Theo hörte Kohn tief Luft holen, als leide er unter Atemnot.
»Jederzeit«, antwortete Kohn.
»Schön«, sagte Ouaziz. Er löste sich von Kohn und öffnete eine Tür. Sie betraten einen Lagerraum mit Putzmitteln, voluminösen Staubsaugern, mit denen auch Wasser aufgesaugt werden konnte, Besen, Bürsten, großen Paketen Toilettenpapier und Kartons mit Kopierpapier.
Ouaziz öffnete die nächste Tür. Sie gelangten in die zentrale Eingangshalle des Schulgebäudes, unterhalb der Treppe. Jetzt wurde es ernst.
Hellgraue Granitfußböden mit farbigen Zierrändern. Eine Treppe mit Geländer aus verschnörkeltem schwarzem Schmiedeeisen, Art déco. Garderoben, an denen Jacken und Taschen hingen.
Ouaziz und Kohn, in Polizeiblau gekleidet, blieben mitten in der Eingangshalle stehen und spitzten die Ohren. Es war beängstigend still. Ein Schulgebäude mit dreihundert Kindern, und kein Laut zu hören.
Die Türen und Fenster zur Straße hin waren mit Vorhängen, Tüchern, Tapeten abgeklebt, der Blick nach draußen und von draußen nach drinnen war versperrt. Die Deckenleuchten in der Eingangshalle brannten.
Ouaziz zeigte auf eine breite Schwingflügeltür mit Drahtglasscheiben. Vorsichtig warfen sie einen Blick hinein. Es war die Aula der Schule. Dort hatten vor einem Jahrhundert Waisenmädchen ihre Mahlzeiten eingenommen, vielleicht in der gleichen Stille.
Die Kinder hockten dicht gedrängt dort drinnen im Halbdunkel auf dem Fußboden. Viele von ihnen schmiegten sich zusammengekauert aneinander. Und die Lehrerinnen – es gab nur zwei Männer im Kollegium – saßen zusammen in einer dämmrigen Ecke, auf Stühlen, mit geschlossenen Augen oder dumpf auf irgendeinen Punkt im Saal starrend. Die Vorhänge waren zugezogen. Nur in der Mitte des Saals, wo zwei Neonröhren brannten, war es ein wenig heller. Auf dem Fußboden Becher, Wasserflaschen, Butterbrotdosen und Papier- und Folienknäuel.
Da ertönte hinter ihnen plötzlich lautes Gebrüll.
»Scheiße! Hinlegen! Scheiße! Scheiße! Auf die Knie! Auf die Knie! Hände in den Nacken! Hände in den Nacken! Los, los, sonst knall ich euch ab! Hier sind Juden! Juden! Juden!«
In der Aula explodierten Schreie aus zig Kinderkehlen, worauf die Stimmen von Erwachsenen zu hören waren, die zu beschwichtigen versuchten. Scht, ganz ruhig, es wird alles gut.
Ohne sich umzudrehen, sanken Kohn und Ouaziz auf die Knie und legten die Hände in den Nacken. Den Oberkörper hielten sie aber aufrecht. Sie blieben ruhig. Sie hatten das so gewollt, begriff Theo – sie wollten entdeckt werden, gefangen genommen werden, Kontakt herstellen.
In der Aula trat wieder Stille ein. Abrupt.
Theo sah sich den bewaffneten Jungen genauer an. Er war ganz in Schwarz gekleidet und hielt den Lauf eines automatischen Gewehrs auf die Männer gerichtet. Er konnte nicht älter als siebzehn sein. Kurzrasierter Schädel, hageres Gesicht, ein echter »Mocro« aus Amsterdam-West, der Prototyp des jugendlichen marokkanischen Rowdys. Er sprang vor Nervosität hin und her, die Anspannung blitzte aus seinen Augen.
»Scheiße! Scheiße! Sal, komm schnell! Hier sind Juden! SALLIE!«
Auf der Treppe wurden schnelle Schritte laut, jemand kam im Eiltempo die Stufen herunter. Er hielt inne, als er auf dem letzten Treppenabsatz stand. Er trug eine MP 7 von Heckler & Koch an einem Riemen über der Schulter und hielt sie mit einer Hand an seinen Körper gedrückt.
Ouaziz und Kohn drehten sich aus der Hüfte heraus um und schauten nach oben. Kohn wusste, wer das war. Theo wusste es auch.
Sallie war ebenfalls in Schwarz gekleidet. Wie sein Vater hatte er ein schmales Berbergesicht mit glatter, olivfarbener Haut, Augen, die Intelligenz verrieten, Kurzhaarschnitt wie ein amerikanischer GI . Kein Bartwuchs. Keuchend blickte er von oben auf seinen Vater hinab, während
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