Ein gutes Herz (German Edition)
hatte, anders als ihr Bruder. Sie schlossen sich zur Begrüßung fest in die Arme. Kein Wort über die spezielle Beziehung zwischen Sonja und Jimmy – wir waren sehr gute Freunde, sagte sie, wir haben uns in der Dominikanischen Republik kennengelernt –, aber viele Worte über seine Sanftmut, seine Selbstlosigkeit, seine Bescheidenheit. Große, komplexe, aber wahre Worte, dachte Sonja. Auf der Insel hatte er unterrichtet, Investoren für den sozialen Wohnungsbau gewonnen, in Krankenhäusern gearbeitet, bei Taufen und Sterbefällen die Sakramente gespendet, junge Männer auf den rechten Weg zurückgeführt, junge Mädchen durch Überzeugungsarbeit aus Bordellen herausgeholt, Streitigkeiten geschlichtet, Frieden verbreitet und einmal in der Woche mit ihr geschlafen. Noch immer fühlte sie die Wärme seiner Haut, die Gier seiner Zunge und seiner Hände, den Rhythmus seiner Hüften. Er war nach Amerika zurückgerufen worden und hatte dort vermutlich andere Freundinnen gehabt. Sie fragte nie nach, ihre Kontakte wurden spärlicher, verloren ihre Intimität.
Sonja verließ die Insel und zog nach Lissabon. Dann nach Viareggio. Ibiza. Juan-les-Pins. Der Mann, der ihr Liebhaber gewesen war, wurde zu einem früheren Freund. Jimmy. Bis Janet anrief.
Am Morgen nach ihrer Ankunft in Rochester besuchte sie ihn, aber er erkannte sie nicht. Sie hielt seine Hand und redete mit ihm. Doch der Tumor hatte sein Gehirn angefressen und verursachte nur noch irrsinnige Schmerzen. Jimmy bekam hohe Dosen Morphium und war dadurch in Regionen versetzt worden, wo sie ihn nicht erreichen konnte. Zwei Stunden saß sie an seinem Bett. Sein Körper schien äußerlich nicht gelitten zu haben, er sah noch genauso aus wie zu der Zeit, da sie miteinander geschlafen hatten. Jimmy hatte lebensverlängernde Therapien abgelehnt. Sie wusste, warum, ohne es auszusprechen: Gott hatte ihm das auferlegt. Hin und wieder schlug Jimmy die Augen auf, doch er sah sie nicht.
Sie besuchte ihn an drei Tagen nacheinander, jeweils für zwei Stunden. Am Ende des dritten Tages wurde er für hirntot erklärt, und man fuhr seinen Körper in eine Abteilung, wo er nicht mehr Jimmy sein würde, sondern ein reichhaltiges Reservoir an lebensspendenden Organen. So hatte er es in seinem Testament verfügt.
Sonja und Janet waren erschöpft. Es war vorbei. Jimmy war weg, und sie mussten sich dem Leben widmen. Sonja blieb nicht zur Beerdigung, sondern flog über Paris an die Côte d’Azur zurück. In Cannes holte sie ihren Sohn ab, und als sie ihn zu Bett gebracht hatte, fiel sie neben ihm in einen tiefen, heilenden Schlaf, der sie beide erst verließ, als die Putzfrau klingelte. Nathan hätte schon in der Schule sein müssen. Sie behielt ihn zu Hause, es war ein milder mediterraner Tag im März, im frühlingshaften Wetter brachen schon die ersten Knospen auf. Nathan durfte gamen, so viel er wollte. Sie las, telefonierte auf der Terrasse sitzend mit Freundinnen hier und in Amsterdam, ohne Jimmy zu erwähnen. Jedes Wort über ihn wäre Verrat gewesen. Sie hatte einen Heiligen gekannt. Über Heiligkeit schweigt man. Sie formte Hamburger und schnitt Kartoffeln, um Nathan Pommes frites zu machen. An jenem Abend weinte sie vor Glück darüber, dass sie auf der Insel ein Jahr lang mit Jimmy geschlafen hatte und mit Zärtlichkeit an ihn denken konnte.
Und jetzt war seine Schwester Janet gestorben. Lieber, lieber Jimmy. Er glaubte an ein Leben nach dem Tod. Das war der Kern seiner Glaubensauffassung. Sonja glaubte, dass sie nicht glaubte, aber sicher war sie sich nicht – es gab noch vieles, was sie ergründen, abrunden, beschwören musste, bevor sie Gewissheit darüber haben würde, ob sie glaubte, dass es nach diesem Leben noch etwas anderes gab. Dass sie wie eine Nomadin lebte – gut, eine reiche Nomadin mit Geld von der Familie –, hatte mit dem Mann zu tun, den sie vor zehneinhalb Jahren verlassen musste, um sich selbst zu retten. Sie hatte Max Kohn verlassen, als ihr klar wurde, wie destruktiv er war.
Nathan hatte sie in London zur Welt gebracht, danach war sie in die Dominikanische Republik gezogen, hatte ein Haus am Strand gemietet und über eine Niederländerin, die sie dort kennenlernte, eine robuste Babysitterin und Haushälterin gefunden. Nach Jimmy hatte es andere gegeben. Für ein, zwei Nächte. Ein amerikanischer Student. Ein französischer Banker. Sie konnte haben, wen sie wollte. Sie hatte während ihres Medizinstudiums ein paar Jahre lang als Model gejobbt und
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