Ein gutes Herz (German Edition)
»Bewährungshelfer«, der ein geiler Franziskaner gewesen war, gefragt, warum er in einer Kaserne untergebracht war. Die Antwort fiel flapsig und unangenehm scharf aus: »Du bist dort, wo du deiner Meinung nach hingehörst.«
Das klang fast wie ein Satz aus Siddharta von Hermann Hesse, den er in jungen Jahren natürlich auch gelesen und der ihn ziemlich genervt hatte. Hier hatte er den Roman noch einmal gelesen. Alles, was je geschrieben worden war, stand hier zur Verfügung. Sämtliche Bücher. Sämtliche Worte. Siddharta bedeutete »der, der sein Ziel erreicht hat«. Auf Theo traf das nicht zu. Trotzdem hatte er jetzt mehr Verständnis für den Roman. Er handelte von einem Mann, Siddharta, der eine Reise unternahm und am Ende zur Erleuchtung fand. Dafür waren Romane da, für die Illusion, dass man seine Bestimmung finden konnte.
Jimmy meinte offenbar, dass die Kaserne Theos derzeitige Befindlichkeit widerspiegelte. Immer noch auf dem Kriegspfad. Immer noch bereit, mit allen und jedem die Klingen zu kreuzen. Aber er verkehrte hier in der beschämenden Erfahrung, nur noch ein Kopf zu sein. Das musste ein Ende haben. Der Meinung waren die hiesigen Entscheidungsträger – Theo wusste, dass das ein Euphemismus war, aber er wollte es lieber nicht auf eine Konfrontation mit diesen Allmächtigen ankommen lassen –, und Theo war es auch. Er wollte vollständig sein.
Die Realität, in der er jetzt existierte, war von strengen Regeln gekennzeichnet. Welche das waren, musste jeder Neuankömmling selbst herausfinden. Als Theo nach jenem Novembertag 2004 hier eingetroffen war, hatte er sich, nachdem die ersten Wellen wahnwitziger Panik abgeebbt waren, auf eine Erkundungstour gemacht. Es schien nicht die Hölle zu sein, wohin er hier gelangt war. Nicht, dass es die nicht gab – es waren sogar untrügliche Hinweise darauf vorhanden.
Aber es handelte sich um einen anderen Ort, an dem sein Bewusstsein jetzt existierte, »Vorhölle« hieß er bei den Frömmlern auf der Erde. Die Leute hier nannten ihn schlicht »Aufnahme«.
Seine ersten Jahre hier oben waren von Wut geprägt. Wut auf die somalische Prinzessin, auf Boujeri, auf all die Typen, die aus seinem Tod Kapital geschlagen und irdischen Erfolg damit verbucht hatten. Des einen Tod ist des anderen Brot. Vielleicht wäre er selbst genauso damit umgegangen, wenn es zum Beispiel der Prinzessin zugestoßen wäre. Dann hätte er über sie geschrieben oder einen Film über sie gemacht. Interessantes Material. Theo hatte durchaus Verständnis dafür, aber alles in allem war es unerträglich.
Anfangs ging er überallhin. Sie ließen es zu. Man wollte unweigerlich zurück, immer wieder, wollte schauen und wenn möglich anfassen, berühren, körperlich sein. Sie warnten, dass es nicht möglich sei, physische Erfahrungen zu machen, aber sie wussten, dass man das Unmögliche erfahren musste – klang paradox und war es auch.
Er besuchte seine Freunde. Er war gerührt, als er entdeckte, dass sie ihn aufrichtig vermissten, sogar die Freunde, die er gar nicht freundschaftlich beleidigt und verprellt hatte. Er habe unterschiedliche Seiten gehabt, sagten sie über ihn, und wenn man einmal die nette, liebe Seite gesehen habe, habe man ihm vieles verziehen. Das klang human, aber er war genauso hell, wie er dunkel war. Wer wäre er ohne seinen Hass, seine Aversionen, seine Wut gewesen? Vielleicht hatte er nie ein großes Publikum für sich gewonnen, weil es intuitiv spürte, dass er stärker hasste als liebte.
Aber er liebte! Siddharta lernte durch die Liebe zu seinem Sohn, was Liebe war. Vielleicht hätte Theo ein liebevoller Künstler werden können wie der entfernte Onkel Vincent, wenn ihm etwas mehr Zeit vergönnt gewesen wäre. Aber Boujeri hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der Scheißmarokkaner mit dem Messer. Die Schüsse hatten Theo nur verletzt, es war der Kris, der alles besiegelte. Das Unumkehrbare.
Nach einer gewissen Zeit schränkten die hiesigen Entscheidungsträger die Bewegungsfreiheit ein. Das geschah ganz organisch. Unten war man allen noch gegenwärtig, wenn man gerade gestorben war – man war ja auch wirklich dort, wie er jetzt wusste, zwar im Schockzustand, in Panik, schreiend und brüllend, aber man war dort, wo man am liebsten sein wollte: auf der Erde, als wahrnehmendes und fühlendes Etwas. Nach ein paar Jahren ließ das Bedürfnis nach. Er sah nach Boujeri. Nach seinen Eltern. Nach seinem Sohn. Sein Zimmer in der Kaserne brauchte er dafür
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