Ein gutes Herz (German Edition)
Der therapeutische Wert für den Toten lag natürlich in der Loslösung. Er sollte sich der Trauer entziehen. Sich auf jemand anderen konzentrieren und versuchen, altruistisch das Leben eines Lebenden zu betreuen. Schutzengel zu werden bedeutete, dass man sich von seinen eigenen Gefühlen frei machen musste. »Es ist furchtbar schwierig«, sagte Jimmy, der sündige Franziskaner. »Den meisten gelingt es nicht, und das sehen wir ihnen nach. Wir existieren hier in einer anderen Form, einer Art Materie, die völlig transparent ist. Auch wenn es nicht gelingt, ist der Wert des Ganzen doch der Versuch. «
»Nicht das Ziel, sondern der Weg«, bot Theo an. Ein abgegriffenes Klischee. Doch er hatte die Erfahrung gemacht, dass man an diesem Ort keine Klischees scheute.
»Na ja, schon auch gern ein bisschen Ziel«, erwiderte Jimmy mit einem Grinsen.
»Was kann ich tun?«, wollte Theo wissen. Zum ersten Mal seit Jahren hatte er etwas vor. Ein Projekt. Nicht, dass er deswegen weniger rauchte oder trank, im Gegenteil, er schenkte sich mit seinen nicht vorhandenen Händen gleich ein Glas Royal Salute ein und auch eines für Jimmy, der mit dem Finger auf den Rand seines leeren Glases tippte, aber es war schön, in eine nächste Phase zu gelangen. So empfand er es. Jahrelang hatte er keinen Gedanken gedacht, der nicht zutiefst mit seinem eigenen Schicksal zu tun hatte. Jahrelang die Wut über das, was ihm zugestoßen war.
Plötzlich ging ihm etwas auf. »Ich hatte an jenem Tag keinen Schutzengel«, sagte er aggressiv.
»Danach habe ich mich nicht erkundigt«, erwiderte Jimmy, während er, mit einem Mal nervös, die Augen niederschlug.
»Das hast du wohl, Jimmy, aber du willst es mir nicht sagen.«
Jimmy trank einen Schluck. »Ein wirklich guter Tropfen, Theo. Wie nett, dass du ihn mit mir teilst.«
»Nicht ablenken, Pater. Hatte ich einen Schutzengel? Hat er mich verarscht?«
»Man hat dich nicht verarscht! Es ist schwierig! Geradezu unmöglich!«
»Danke für die ermutigenden Worte«, sagte Theo mürrisch.
»Konzentrier dich auf deine Aufgabe. Lass die Vergangenheit ruhen. Sorg dafür, dass deine Energie positiv aufgeladen wird und du dich ganz Max Kohn widmen kannst.«
»Ich bin also 2004 einfach meinem Schicksal überlassen worden?«
»Gilt das nicht für jeden Mord, Theo? Für jeden Unfall? Für jeden Tod? Wir sind hier nicht allmächtig, wie du schon gemerkt haben wirst. Manchmal gelingt es. Ein Flugzeug stürzt ab, und bis auf einen einzigen Passagier kommen alle ums Leben. Warum? War dieser eine ein besserer Mensch als die anderen? Pech, Zufall, Schicksal? Ja, in neunundneunzig von hundert Fällen. Und manchmal gibt es einen Schutzengel mit Glück, einen Schutzengel, der einen Menschen über alle Dimensionen hinweg auf der Erde halten kann. Warum? Wir befassen uns auf dieser Ebene nicht mit dem Warum, Theo. Aber ich bin weniger lange hier als du, ich habe nicht auf alles eine Antwort.«
Theo fiel es wie Schuppen von den Augen.
»War es Pim Fortuyn? Hatte Fortuyn sich zu meinem Schutzengel aufgeworfen, um dann durch Abwesenheit zu glänzen? Na los, red nicht um den heißen Brei herum, wir sind beide tot! Du kannst sagen, was du willst, heiliger Vater!«
Theo quoll der Rauch aus Nase, Mund und Ohren. Er rauchte jetzt vier Zigaretten gleichzeitig und hatte achtzehn Gläser Whisky in achtzehn nicht vorhandenen Händen.
»Ich weiß nicht, von wem du sprichst«, sagte Jimmy.
Theo spürte, dass er log.
Jimmy fuhr fort: »Ich finde, das ist eine Diskussion, die hier nicht geführt werden kann. Du hast jetzt eine Verantwortung. Bau keinen Mist. Es ist wichtig. Es wird dir guttun.«
Jimmy war offenbar nicht befugt, über Fortuyn zu sprechen, oder es war vielleicht noch zu früh dafür. Aber Theo konnte das nicht auf sich beruhen lassen, auch wenn er jetzt nicht weiter in ihn dringen würde.
»Max Kohn ist deine Wahl«, sagte er, sich vorläufig mit Jimmys Weigerung, über Fortuyn zu reden, abfindend. »Was willst du von ihm?«
»Theo«, erwiderte Jimmy kopfschüttelnd, als könne er Theos Gedanken lesen (das konnte er auch), »lass Fortuyn ruhen. Verabschiede dich von der Vorstellung, dass wir hier allmächtig sind. Wir tun unser Bestes, genau wie unten auf der Erde. Max Kohn. Um ihn geht es jetzt. Nimm dich seiner an. Beschütze ihn. Versuch’s. Verdien dir deinen Körper.«
Theo nickte ergeben. Aber es brodelte nach wie vor in ihm. Sein Groll hatte nicht nachgelassen. Daran müsse er arbeiten – er grinste
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