Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein gutes Herz (German Edition)

Ein gutes Herz (German Edition)

Titel: Ein gutes Herz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon de Winter
Vom Netzwerk:
nicht zu verlassen. Der bloße Wille genügte. Er war dauernd unterwegs. Auf allen Kontinenten. Er schaute in Schlafzimmer, Badezimmer, Büros, Krankenhäuser, auf Schlachtfelder, auf den Meeresgrund, über die Wolken. Er sah die Menschheit in ihrer ganzen trostlosen, abscheulichen Verletzbarkeit. Aber er war auch neidisch. Er wäre gern genauso trostlos und abscheulich verletzbar gewesen. Er hätte gern geatmet. Er hätte gern menschliche Schmerzen gehabt und menschlich vom Ruhm geträumt und menschlich Frauen verführt.
    Seine Reisen waren so anstrengend, als liefe er jede Sekunde einen Marathon (den er nie gelaufen war). Wenn er unten gewesen und wieder in seinem Kasernenzimmer war, das er nie verlassen hatte, brauchte er eine Weile, um sich zu erholen und den Schmerz der Trennung vom Irdischen von sich abzuwaschen, als könnte er mit einer Dusche sein Inneres erfrischen. Aber ein Inneres hatte er genauso wenig wie einen Körper. Er war.
    Die Möglichkeit, mit der somalischen Prinzessin in Kontakt zu treten, wie es ihm Jimmy in Aussicht gestellt hatte, ließ ihn schaudern. Sie hatte seinen Tod verursacht. Ein Kurzfilm, den er in nur einem Tag gedreht hatte, weiß Gott nicht sein bester, war für Boujeri der Auslöser dafür gewesen, aus der Anonymität herauszutreten und ein Zeichen zu setzen. Theos Tod hatte die Prinzessin zu einer internationalen Berühmtheit gemacht. Er war die spektakuläre Amsterdamer Geschichte, mit deren Hilfe die sich allmählich abnutzende ethnische afrikanische Geschichte, die sie seit Jahren erzählte, plötzlich brandaktuell und weltweit interessant wurde.
    Also wurde es nun Max Kohn. Er wusste, dass Kohn als dubioser Geschäftsmann mit Beziehungen zur Unterwelt galt. Schon pikant, von seinem jetzigen Aufenthaltsort aus ausgerechnet eine so umstrittene Figur wie Kohn näher kennenzulernen. Was hatte Jimmy mit Kohn?
    Jimmy machte kein Geheimnis daraus: Sein Herz schlug in Kohns Körper. Seit der Transplantation beobachtete er Kohn voll Misstrauen, doch als Teil des Systems hatte er nicht die Freiheit, Beziehungen zu denen unten auf der Erde zu unterhalten und, was ohnehin nur minimalst möglich war, das Tun und Lassen Einzelner zu beeinflussen. Die Arbeit mussten Tote erledigen, die noch das eine und andere unter Beweis zu stellen hatten. Wie Theo. Durch Jimmys Tod konnte Kohn am Leben bleiben. Wow…
    Theo erhielt die Erlaubnis, sich Kohn zu nähern. Sicherheitshalber hatte Jimmy seinem Supervisor mitgeteilt, dass einer seiner Klienten – Theo – Schutzengel des Mannes werden sollte, der Jimmys Herz bekommen hatte. So etwas war noch nie da gewesen, und der Supervisor hatte sich seinerseits mit seinem Supervisor beraten, und der hatte sich auch wieder eine Etage höher rückversichert. Aber es wurde abgesegnet. Das dürfe freilich nicht zur Regel werden, hieß es, und sie sollten bitte einen Vertrag aufsetzen, in dem sie erklärten, dass sie auf eigene Verantwortung handelten – das übliche bürokratische Blabla, wie Theo es aus seinem früheren Dasein nur zu gut kannte. Auch hier also. Alles blieb gleich, obwohl sich alles änderte. Dennoch meinte man weiter oben, dass es ein einzigartiges Experiment sei.
    Damit stand also fest, welchen Titel Theo nun tragen durfte. Zum Schreien!
    Schutzengel.
    Wenn das seine Mutter gewusst hätte! Und seine Feinde, namentlich dieser Scharlatan de Winter. Schutzengel Theo. Zum Totlachen. Und zudem Schutzengel eines jüdischen Verbrechers. Einst war Theo wegen antisemitischer Äußerungen zu einem Bußgeld verknackt worden, und jetzt sollte er als Schutzengel eines Juden auftreten. Der Kosmos, zu dem auch Theos jetzige Umgebung gehörte, war nicht frei von Ironie, nein, war die reine Ironie.
    Der Titel war famos. Und man führte ihn sogar als Kürzel hinter dem Namen: Theo van Gogh, SE . Nichts Menschliches war dem Tod fremd. In England trugen mit dem Hosenbandorden Ausgezeichnete, wie Theo sich erinnerte, als »Knight« oder »Lady of the Most Noble Order of the Garter« ein KG oder LG hinter dem Namen, und das ließ Briten vor Hochachtung ins Stottern geraten. Er war jetzt Theo van Gogh, SE . Er war hier jetzt wer. Es war zwar nur ein Spiel, das war ihm absolut klar, aber das Spiel gehörte zu jeder Form des Seins, auch wenn es das Tot-Sein war.
    Theo van Gogh, Schutzengel.
    Theo durfte sich nicht von anderen Lebenden ablenken lassen, nicht einmal von seinem Sohn und seinen Eltern, die jeden Tag aufs neue darunter litten, dass er nicht mehr war.

Weitere Kostenlose Bücher