Ein gutes Herz (German Edition)
gegen den Rest der Welt, und er siegte immer – so umschrieb er, wer er war und wo er stand. Aber der Anblick dieser Frau (das ging blitzartig, Knall auf Fall, wie in den Millionen von Songs und Gedichten, die es darüber gab) zersprengte alles, was in seinem Leben in Basalt gemeißelt gewesen war. Er war verwundet, mehr noch im übertragenen als im wörtlichen Sinne. Dreißig Sekunden zu ihr aufschauen – zu dem Schwung ihrer Augenbrauen, zu der Form ihrer Lippen, zu ihren Nasenflügeln, zu dem Muttermal an ihrem Ohr –, und alles war anders. Oder bildete er sich das nur ein? Ich habe einen Schock, durchfuhr es ihn, das muss es sein. Seine überreizten Nervenbahnen sorgten für ein heilloses Informationschaos in seinem Kopf, und jede Frau, die so in Erscheinung trat, würde ihn wohl mit ihrer Schönheit überwältigen. Sie würde ihn retten und heilen. Er war müde und in Panik, und sie würde dafür sorgen, dass er schlief.
»Bleiben Sie bei mir?«, fragte er wie ein kleiner Junge.
»Bei Ihnen? Wie meinen Sie das?«
Sie beugte sich über ihn. Er sah, dass er sie in Verwirrung brachte. Er konnte seine Gefühle nicht vor ihr verbergen, sie konnte alles sehen, was sein Herz bewegte. Er liebte sie. Er hatte sie schon immer geliebt, lange, bevor er ihr begegnet war.
»Bleiben Sie bei mir?«
Sie nickte. »Ja«, sagte sie feierlich.
Sie ging neben der Trage her, als er zum Röntgen gefahren wurde. Sie blieb bei ihm, als er für die Operation vorbereitet wurde – eine Kugel steckte noch in seiner Schulter –, und als er in Narkose versetzt wurde, war sie das Letzte, was er sah.
Am späten Vormittag erwachte er, ohne sich verwirrt die Frage zu stellen, wo er war und was er hier verloren hatte. Er war sich all dessen vollkommen bewusst, als er in seinem Krankenhauszimmer die Augen aufschlug. Der lautlose Anschlag vor seinem Haus. Kicham, der ihn ins Krankenhaus gefahren hatte. Die Ärztin, in die er sich binnen einer Minute bedingungslos verliebt hatte. Nun, da er ihr begegnet war, hatte er plötzlich Wünsche, Zukunftserwartungen. Er wollte ein anderer, besserer, gesetzestreuerer Mensch werden. Er wollte Kinder mit ihr. Er hatte kaum ein Wort mit ihr gewechselt, aber diese Gewissheit hatte er jetzt: Er wollte Kinder. Womöglich hatten die Kugeln ihn verrückt gemacht. Aber er konnte nichts dagegen tun.
Kohn blieb vier Tage im Krankenhaus. Am ersten Tag lag er in einem Zimmer für Frischoperierte. Er hörte Sinterklaas von Zimmer zu Zimmer ziehen. Als ein hysterisch lachender Zwarte Piet den Kopf zur Tür hereinstreckte, schüttelte er abwehrend den Kopf. Er erwartete, dass jeden Augenblick die Polizei an seinem Bett auftauchen würde, doch es blieb ruhig. Er rief Kichie an und bat ihn zu eruieren, ob sich dieses Krankenhaus bei Schussverletzungen nach wie vor an die ärztliche Schweigepflicht hielt. Fünf Minuten später rief Kichie zurück. Alles safe . Und allem Anschein nach hatte auch niemand etwas von dem Anschlag an der Gracht mitbekommen.
Da es keinerlei Komplikationen gab, wurde Kohn am zweiten Tag in ein normales Vierbettzimmer verlegt. Am dritten Tag war er schon wieder so weit bei Kräften, dass er durch die Flure spazieren konnte. Er hatte sich nicht nach ihr erkundigt, aber er vermutete, dass sie noch Nachtdienst hatte.
Mitten in der Nacht ging er nach unten in die hell erleuchtete Notaufnahme. Niemand stellte sich ihm in den Weg. Am anderen Ende des Behandlungssaals erkannte er ihren Rücken, ihren Pferdeschwanz und ihre Waden und Fesseln. Sie stand bei einer der Liegen, die durch Vorhänge voneinander getrennt werden konnten, bei einem glatzköpfigen Mann, dessen Füße über dem Boden baumelten. Der Mann hatte eine Kopfwunde, die sie mit Gaze säuberte. Eine wohl vom Regen durchnässte Frau schaute zu. Die Ärztin, seine Ärztin, drehte sich ruckartig um, als sie seinen Blick auf sich fühlte – als hätte ein Stromstoß ihren Hinterkopf getroffen. Sie sah ihn sekundenlang an. So lange, dass sich die nasse Frau auch zu ihm umschaute, und ebenso der Mann mit der Kopfwunde, der sich vorbeugen musste, um an der Ärztin vorbei einen Blick auf ihn werfen zu können.
Kohn hob den Zeigefinger und deutete erst auf sich und dann auf sie. Das konnte alles Mögliche heißen, signalisierte aber meistens, dass der eine mit dem anderen reden wollte. Das wollte er auch. Aber er wollte noch viel mehr. Er wollte alles.
Sie ließ sich Zeit. Kohn wartete. Sorgfältig legte sie einen theatralisch großen
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