Ein gutes Herz (German Edition)
okay. Ein bisschen Druck ausüben von Zeit zu Zeit, gut. Aber die Grenze überschreiten?«
»Willst du eine Annonce in den Telegraaf setzen? Ich ziehe mich zurück, bitte schießt nicht auf mich! Denk doch mal nach, Max. Du steckst da drin, du kannst nicht mehr zurück. Sie jagen dich. Das hört jetzt nicht einfach auf.«
»Dieses Geschäft funktioniert nur, wenn Ruhe herrscht. Wir hatten den Markt gut aufgeteilt.«
»Das denkst du, weil du die größten Anteile hast. Jetzt kommt es darauf an, dass du dich selbst schützt. Bleib im Haus, bis ich das geregelt habe. Die Schlösser sind ausgetauscht. Die Fenster sind gesichert. Und nachher kommen ein paar Jungs, die sich im Vorderhaus einquartieren. Sie bringen Schlafsäcke mit, sie holen sich irgendwo was zu essen, sie werden dir nicht zur Last fallen, du wirst sie nicht hören. Nur so lange, bis das Ganze vorbei ist.«
»Wann ist es vorbei, Kichie?«
»Das wirst du schon merken.«
»Ich möchte genau wissen, was du tust, jeden Schritt. Halte mich auf dem Laufenden.«
»Nein.«
»Nein?«, wiederholte Kohn, erstaunt, dass sein Adjutant so resolut, so schroff reagierte.
»Darf ich dir einen Rat geben, Max? Lass mich das regeln. Halte du dich raus. Es ist wahrscheinlich am vernünftigsten, wenn du nicht weißt, was ich mache.«
»Das ist mein Geschäft, Kichie. Das sind meine Angelegenheiten. Ich kann das nicht dir überlassen.«
»Hör zu, Max, ich bin ersetzbar, du nicht. Ich kann nicht, was du kannst. Für mich findest du zehn andere, das ist gar keine Kunst. Aber du musst unbehelligt bleiben, wenn die Sache aus dem Ruder laufen sollte. Du weißt von nichts. Dabei müssen wir es belassen.«
Er streckte die Hand aus, nicht die rauhe Hand eines Bauern oder Arbeiters, sondern die gepflegte Hand eines Akademikers, eines Mediziners. Kohn ergriff sie.
Jetzt, im Nachhinein, wusste er, dass er das nicht hätte tun dürfen. Es war ein fataler Moment. Aber in dem Moment hatte Kichams Bedürfnis, ihn zu beschützen, etwas Rührendes gehabt. Und das war es nach wie vor. Rührend und fatal.
Im Vorderhaus zogen vier junge Marokkaner ein. Sie grüßten ihn höflich, wenn er hinausging – um Kichams Ermahnung, besser drinnen zu bleiben, scherte er sich nicht –, und hielten sich auf der Straße diskret in seiner Nähe.
Es kostete ihn keine große Mühe, Sonjas Verlobten David zu finden. David de Vries hieß er, und er war seit kurzem Journalist beim NRC Handelsblad, der vornehmen linksliberalen Tageszeitung, die gerne zum auflagenstärksten Blatt der Niederlande aufsteigen wollte. Sonja kannte ihn seit der weiterführenden Schule, eine Jugendliebe, die schon zehn Jahre hielt. Sie hatten eine Maisonettewohnung in einer der neuen Yuppiestraßen im Osten Amsterdams gekauft, zwei junge Akademiker, die in ein paar Jahren in eine der exklusiven Straßen in Amsterdam-Süd ziehen, dort eine Familie gründen und im Sommer mit Freunden ein Haus in der Toskana oder in der Provence mieten würden. Dagegen war auch gar nichts einzuwenden. Im Gegenteil, das war ein durchaus angenehmer Lebensrhythmus. Aber Kohn konnte den Gedanken an diese Frau nicht aufgeben. Er war fünfunddreißig, und zum ersten Mal hatte ihn ein quälendes Verlangen gepackt, ein rastlos machendes, obsessives Schmachten nach einer Frau, die er überhaupt nicht kannte.
Über der Heilung von Schulter und Handgelenk vergingen Wochen. Er machte Krankengymnastik. Er traf sich mit dem Team, das die neuen Lieferungen vorbereitete. Seine Sicherheit schien nicht mehr in Frage zu stehen. Er fragte Kicham nicht nach der Verfolgung der Schützen, und Kicham äußerte sich nicht darüber. Irgendwann waren die Aufpasser plötzlich wieder aus dem Vorderhaus ausgezogen. Kein Stäubchen, kein Schnipselchen Papier, keinen Krümel hatten sie hinterlassen. Vermutlich hatten sie alles ausgefegt und geputzt, damit keine Fingerabdrücke zu finden waren, und das deutete darauf hin, dass die Sache erledigt war. Kohn studierte die Zeitungen, und eines Tages stieß er auf Berichte über einen Doppelmord an Jugoslawen. Er fragte Kichie nicht danach.
Das neue Jahr begann. Mitte Januar rief er Sonja an. Sie arbeitete jetzt in der Abteilung Innere Medizin, der letzte Abschnitt ihrer Facharztausbildung. Er bat darum, mit ihr verbunden zu werden.
»Und wen darf ich melden?«, fragte die Telefonistin.
»Marcus Antonius.«
»Mar… Könnten Sie das bitte buchstabieren?«
Er leistete ihrer Bitte Folge und wartete. Sonja ließ ihn drei
Weitere Kostenlose Bücher