Ein gutes Herz (German Edition)
Minuten lang das Rauschen in der Leitung hören. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie sein Zeichen nicht verstehen würde. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass sie nicht begriff, wer am Apparat war. Oder war er für sie nur ein unangenehmer Zwischenfall gewesen, jemand, der ihre Stimmung einige Minuten lang negativ beeinflusst hatte, danach aber schnell wieder vergessen war? Wie lange hatten sie überhaupt miteinander geredet? Fünf Minuten? Weniger? Aber sie hatte doch nach ihm gesehen, als er verletzt im Krankenhausbett lag? Bedeutete das gar nichts?
»Doktor Verstraete. Marcus Antonius, heißen Sie wirklich so?«
»Manchmal«, sagte Kohn. Das mit dem Namen bereute er schon wieder. Ein müder Scherz.
»Ach…«, murmelte sie, völlig desinteressiert.
»Ich war mir nicht sicher, ob du an den Apparat kommen würdest, wenn ich meinen richtigen Namen genannt hätte.« Einige Sekunden lang hörte er nur Hintergrundgeräusche.
»Warum sollte ich nicht?«
»Weil ich dich so gerne sehen möchte und du befürchtest, dass dann etwas kaputtgehen könnte, was du gerne behalten möchtest.«
»Du bist ja ganz schön von dir überzeugt!«
»Ich kann nur noch an dich denken«, sagte er wie ein verliebter Schuljunge.
»Warum solltest du an mich denken?« Sie flüsterte jetzt, offenbar um zu verhindern, dass man am Empfangstresen der Abteilung mitbekam, was sie sagte. »Zwischen uns ist gar nichts. Wir haben ja kaum miteinander geredet.«
»Da ist schon etwas, auch wenn ich nicht weiß, was«, sagte Kohn.
Sonja flüsterte: »Ich habe hier und da deinen Namen fallenlassen. Du hast keinen guten Ruf.«
»Was für einen denn?«, fragte Kohn.
»Du bist ein Schürzenjäger, ein Hurenbock. Es gibt keine Kneipe und keinen Club, wo man dich nicht kennt.«
»Seit ich dich kennengelernt habe, lebe ich wie ein Mönch.«
»Du hast mich nicht kennengelernt. Ich bin eine Fremde für dich.«
»Nein. Ich kenne dich schon mein ganzes Leben lang. Ich hatte dich nur noch nicht gefunden. So sieht es aus.«
»Hast du diese Sätze deinem Lieblingsbuch Wie verführe ich eine fast verheiratete Frau entnommen?«
»Das Buch habe ich geschrieben, Sonja.«
Er hörte sie lachen. Es war himmlisch, ihren Namen auszusprechen.
»Ich habe für morgen einen Tisch reserviert. Mittags. Amstel Hotel. Ein Uhr.«
»Guten Appetit«, sagte sie.
»Ich warte auf dich.«
»Tu’s lieber nicht, wenn du Hunger hast.«
»Das Risiko gehe ich ein.«
»Ich muss morgen arbeiten.«
»Nein. Du hast morgen frei, ich habe mich erkundigt. Morgen, am Fenster mit Blick auf die Amstel. Wir sind füreinander bestimmt.« Er zögerte, sagte es dann aber doch: »Wie Marcus Antonius und Kleopatra.«
»Ich glaube nicht«, sagte sie. »Und es ging nicht gut aus zwischen den beiden. Ganz und gar nicht gut.« Sie legte auf.
»Sonja«, flüsterte er, »Sonja.« Er war ein verliebter Schuljunge. Lächerlich. Ärgerlich. Aber er wollte sie haben.
Sechzehn Jahre später nahm Kohn – in seinem Leib schlug das Herz eines amerikanischen Priesters, mit dem Sonja sich hatte fotografieren lassen – an demselben Tisch im Amstel Hotel Platz, der damals das Letzte gewesen war, was sie von ihm trennte.
Sonja kam damals viel zu spät. Er hatte sich vorgenommen, den ganzen Nachmittag zu warten, wenn es sein musste. Er war davon überzeugt, dass sie auftauchen würde, aber sie würde zu spät kommen, weil sie wissen wollte, ob er eine Stunde lang an einem leeren Tisch sitzen bleiben würde, ob sie ihm das wert war. Das passte zu ihr. Er kannte sie kaum und doch sehr gut.
Mehr als siebzig Minuten ließ sie ihn warten. Es machte ihm nichts aus. Er war sich ihrer sicher. Sie ließ sich auf dem Stuhl ihm gegenüber nieder. Sie hatte sich geschminkt, trug Schmuck, einen schwarzen Minirock mit schwarzem Jäckchen, schwarze Strümpfe, schwarze Pumps, eine selbstbewusste, modische junge Frau, gekleidet wie für eine Vernissage in einer Galerie. Sie schaute sich nervös um und zündete sich eine Zigarette an. Dass sie Raucherin war, hatte er schon vermutet. Er sah, dass ihre Hände zitterten, als sie das Streichholz an die Zigarette hielt. Sie sah ihn an, dann wieder zur Seite, zu den anderen Restaurantgästen, zu den Rundfahrtbooten draußen auf der Amstel, dann wieder fest in seine Augen, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Diamantknöpfe in den Ohrläppchen. Ohne zu fragen, schenkte er ihr ein Glas Wasser ein. Sie schwiegen. Ihr Lippenstift hinterließ einen roten Rand auf
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