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Ein gutes Herz (German Edition)

Ein gutes Herz (German Edition)

Titel: Ein gutes Herz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon de Winter
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Gleiche mitgemacht. Sie ist danach ohne ihre Eltern in ein anderes Versteck gebracht worden. Ihre Eltern wurden verraten. Sie sind nie wiedergekommen.«
    »Warum hat Max diese Frau ermordet?«
    »Ich war damals gerade zu Besuch bei meiner Mutter in Den Bosch. ’77 war das. Ich war auf der Filmhochschule und hatte gerade mein erstes Buch herausgebracht. Max wollte mit mir reden, er war noch auf der weiterführenden Schule und wollte auch zur Filmhochschule.«
    »Er hat aber doch Politikwissenschaft studiert.«
    »Damals war er sechzehn und wollte Filmproduzent werden.«
    »Er besuchte dich also bei deiner Mutter?«
    »Ja. An einem Frühlingstag. Mit seiner Mutter zusammen. Die war damals Ende dreißig, glaube ich. Eine schöne Frau. Alleinstehend mit Kind, da haftete ihr etwas Skandalöses an. Sie unterrichtete Geschichte an einem ›Atheneum‹, die Schulform war damals gerade neu eingeführt worden. Wir waren im Garten, als sie kamen.«
    Leon verstummte, als kurz die Wände ächzten. Dann klirrten die Fensterscheiben, und von fern kam ein tiefes Grummeln, etwa drei Sekunden lang, als habe ein LKW eine schwere Ladung verloren, nein, als sei in der Kanalisation unterhalb der Straße ein Ungeheuer erwacht. Oder als sei am Stadtrand ein Flugzeug abgestürzt.
    Sonja wollte sich davon nicht ablenken lassen. »Und dann?«, fragte sie.
    »Wir waren alle im Garten, als Frau Scholtens auf dem Fahrrad vorüberkam. Oder auf einem Mofa. Sie wohnte nicht weit von uns entfernt, ich hatte sie schon öfter gesehen, meine Mutter hatte mich auf sie aufmerksam gemacht. Und da passierte es. Scholtens sah uns dort stehen und spuckte auf den Boden. Ich sah das wie in Zeitlupe. Wie im Film. Meine Mutter erstarrte, Esther Kohn auch. Während Scholtens davonfuhr, fingen beide an zu weinen und fielen sich in die Arme. Max und ich schauten hilflos zu. Ich wollte diese Scholtens umbringen. Wirklich umbringen.
    Meine Mutter und Esther Kohn haben dann ihre Tränen getrocknet, und wir sind ins Haus gegangen und haben Kaffee getrunken und Bosch’sche Bollen gegessen. Die mochte ich für mein Leben gern, und meine Mutter holte sie vom besten Konditor in Den Bosch, wenn ich sie besuchte. Als Max und seine Mutter gingen, beugte er sich kurz zu mir und flüsterte: ›Die Alte hat noch ein halbes Jahr.‹ Der Blick, den er dabei hatte, machte mir richtig Angst. Das war keine Ironie. Keine Aufschneiderei. Das war nicht der Junge, mit dem ich mich vorher über das Filmemachen unterhalten hatte. Der Vorfall hatte ihn sichtlich verändert, oder er hatte etwas zutage gefördert, was schon in ihm schlummerte. Vier oder fünf Monate später hat mir meine Mutter dann am Telefon erzählt, dass Frau Scholtens tot in ihrem Haus aufgefunden worden war. Sie war die Treppe hinuntergestürzt und hatte sich das Genick gebrochen.«
    Sonja war auf einmal danach, Max zu trösten und Leon auch, für all diesen Wahnsinn und all die Ängste, die weiterhallten und sich fortsetzten, von Generation zu Generation.
    »Es war ein Unfall«, sagte sie. »Warum sollte Max das getan haben?«
    »Offiziell war es ein Unfall. Ich habe Max einige Jahre später danach gefragt, 1982. Da studierte er in Amsterdam. Ich war zu der Zeit ein intellektueller Schriftsteller mit Bart und langen Haaren. Wir trafen uns zufällig in der Buchhandlung Athenaeum und sahen uns danach regelmäßig, waren einige Jahre lang richtig gut befreundet. Ich habe ihn gefragt, und er hat es mir erzählt. Er hat sich Zugang zu ihrem Haus verschafft. Hat oben auf sie gewartet. Und hat sie dann die Treppe hinuntergestoßen.«
    Es klingelte an der Haustür. Sonja hätte gerne noch mehr erfahren, Einzelheiten, Gefühlsregungen, aber Leon unterbrach seine Erzählung. Er tätschelte kurz ihren Arm, verließ Nathans Zimmer und eilte die Treppe hinunter, um aufzumachen.
    Kein Wort hatte Max darüber verloren. In den Jahren, in denen sie zusammen gewesen waren, war der Krieg kaum einmal zur Sprache gekommen, obwohl er viel darüber las. Sie erinnerte sich, dass er die Bücher von Churchill las, von Historikern wie Walter Laqueur, die Erinnerungen von G. L. Durlacher. Sonjas Vater war Jude und hatte als kleiner Junge die Lager überlebt, aber auch er hatte wenig darüber erzählt und sich von jeder religiösen Zugehörigkeit gelöst. Sonjas Mutter kam aus einer agnostischen Familie und besuchte Kirchen nur, wenn sie in Frankreich oder Italien Urlaub machten – bis sie krank wurde und bei Jesus Trost fand. Sie starb

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