Ein gutes Herz (German Edition)
durfte nicht mal mehr meine Freunde anrufen, um mich von ihnen zu verabschieden.
Aber ich war zehn, und ich konnte ihre E-Mails lesen, und ich wusste, wo sie ihre Geheimsachen aufbewahrte, von denen ich nichts wissen sollte. Ich wusste alles. Und das wusste sie nicht. Ich wusste echt alles. Auch das von meinem Vater. Meinem richtigen Vater, meinem »biologischen« Vater.
Okay, ich wusste nicht, wieso wir andauernd umziehen mussten, aber den Rest wusste ich schon.
»Ich glaube dir nicht, Mama. Es gibt gar keinen Grund dafür, dass wir jetzt wieder wegmüssen. Und ich will nicht weg.« Ich war erst unsicher, ob ich einfach sagen sollte, warum ich gerade jetzt nicht wegwollte. Aber dann sagte ich es einfach: »Morgen ist die Party.«
Ich sah sie an. Sie saß genauso da wie ich, auch mit um die Knie geschlungenen Armen. Sie hatte Tränen in den Augen. Das ist immer scheiße. Dann tut sie mir leid. Aber vielleicht kamen die Tränen daher, dass sie so schnell gefahren war.
»Ich hätte dir die Party so sehr gegönnt«, sagte sie.
»Aber…?«
»Ach, es gibt immer ein Aber. Ich wünschte, es wäre nicht so.«
»Ich will nicht mehr umziehen.«
»Ich auch nicht. Aber es muss sein.«
»Ich hau ab, Mama. Echt. Wenn wir woanders hinziehen, hau ich ab. Dann geh ich einfach nach Amsterdam zurück.«
»Es tut mir so schrecklich leid, lieber Naat.«
»Aber warum ist denn jetzt Schluss hier, Mama?«
»Ich weiß es nicht.«
»Bist du irre? Kannst du nicht zum Irrenarzt gehen?«
Sie musste grinsen. »Das wäre schön. Wenn ich eine Pille bekäme und wir einfach bleiben könnten.«
»Aber was ist denn los? Warum lügst du mir vor, dass es wegen deiner Arbeit ist? Das stimmt doch nicht. Deswegen müssen wir nicht weg. Es ist was anderes.«
Sie schüttelte den Kopf. Und sie machte ein Gesicht, als ob ihr irgendwas weh tat.
»Ich kann dir das jetzt nicht erklären. Später vielleicht. Aber jetzt nicht. Du bist noch zu jung.«
»Ich bin zehn!«
»Das ist zu jung.«
»Ich will nicht weg, Mama. Morgen ist die Party.«
Sie nickte, und auf einmal musste sie furchtbar weinen. Da hab ich auch geheult, weil alles so traurig war. Und dann hat sie die Arme ausgebreitet, und ich hab mich an sie gekuschelt und das Gesicht an ihre Schulter gedrückt. So sind wir ein paar Minuten lang sitzen geblieben.
»Wir müssen reden«, sagte sie dann.
Ich hab nicht darauf reagiert. Ich wäre am liebsten in ihren Armen sitzen geblieben und hätte das Gesicht versteckt, damit keiner sehen konnte, dass ich es war.
»Wir fliegen nachher irgendwohin. Ich weiß noch nicht, wohin. Ich verspreche dir, dass du das Mädchen – Lia heißt sie doch, nicht? –, dass du Lia anrufen darfst. Oder mit ihr skypen darfst. Und das Geschenk schicken wir ihr. Ich weiß, das ist nicht dasselbe, wie auf ihre Party zu gehen, aber es ist wenigstens etwas. Wir können nicht bleiben, Liebling. Es ist… Es ist zu gefährlich.«
Ich hab immer noch nichts gesagt. Was hätte ich auch sagen sollen? Ich hatte alles gegoogelt. Mamas Namen und den Namen von meinem angeblichen Vater. Sie hatte immer gesagt, mein Vater wäre ein amerikanischer Soldat gewesen, der in Afghanistan gefallen ist. John Vermeulen. Das Wort »gefallen« habe ich nie mehr vergessen. Als ich Honor the Fallen fand, eine Internetsite mit den Namen amerikanischer Soldaten, die in Afghanistan »gefallen« sind, habe ich seinen Namen eingegeben und bekam die Antwort: »Sorry, but your search for the name ›vermeulen‹ did not return any results.« Ich war immer auf amerikanischen Schulen, ich verstand also, was das hieß.
Im Biologie-Unterricht hatten wir alles gelernt. Ich brauchte nur von meinem Geburtsdatum neun Monate zurückrechnen, dann wusste ich’s. Und auf Google kann man alles finden. Wie kann man nur über so was Lügen erzählen, da muss man ganz schön dumm sein! Einfach den Namen eingeben, und du erfährst alles. Mein Vater war nicht tot. Mama hatte sich irgendeinen Namen ausgedacht und gesagt, dass dieser John Vermeulen niederländische Großeltern hatte. »Wir kannten uns nur eine Woche«, log sie. Dass wir immer wieder umgezogen sind, hatte etwas mit meinem richtigen Vater zu tun. Was genau, wusste ich nicht. Er war ein Krimineller. Dass das nicht so gut war, begriff ich, ich bin ja nicht blöd, aber irgendwie fand ich es auch total cool, einen Vater zu haben, der ein gerissener Ganove war. Das hatte ich in einem Zeitungsartikel über ihn gelesen. Ich hatte Mamas Namen gegoogelt,
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