Ein gutes Herz (German Edition)
abgeklärt, während die damals dreizehnjährige Sonja ihre Hände hielt. Mit niedergeschlagenem Blick stand ihr Vater im entferntesten Winkel des Krankenhauszimmers, das Gesicht grau vor ohnmächtiger Wut. Bis zu seinem Verschwinden sah Sonja ihn nie wieder mit einer anderen Frau. Immer war er allein. Vielleicht ging er zu Huren. Nein, nicht vielleicht, mit Sicherheit.
Leon rief nach ihr, und sie ging hinunter. Zwar war die schlimmste Angst jetzt verflogen, doch Sonja hielt an einem einmal gefassten Beschluss fest. Sie würde weggehen. Dieses Land war bis oben hin mit Schemen, Geistern, Alpträumen angefüllt.
Sie wurde zwei Holländern vorgestellt, großen, hellblonden, groben Typen mit unbewegten Mienen, die den Eindruck erweckten, dass sie wussten, wovon sie redeten. Profis. Dieses Land bestand zur einen Hälfte aus Schemen und zur anderen aus blutleeren Profis, die Ruhe ausstrahlten. Die Männer trugen dunkle Anzüge, billige weiße Hemden und Synthetikkrawatten. Während sie zu viert auf den Marmorfliesen der Diele zwischen der verschnörkelten Haustür und der Mahagonitreppe standen, erläuterte einer der Männer, was sie zu tun gedachten.
Sie könnten noch vor Einbruch der Dunkelheit einen Transporter vor dem Haus postieren. Die Rückseite des Hauses könnten sie überwachen, indem sie einen Beobachtungsposten im unbewohnten Souterrain einrichteten. Sie schlügen eine ganzwöchige Sicherung rund um die Uhr durch vier Männer in Acht-Stunden-Schichten vor, also zwölf Männer pro Tag, während der Tage, die sie zur Installation eines »kugelsicheren« Systems benötigten. Der Mann hatte eine Präsentationsmappe bei sich und wandte sich damit immer mehr Leon zu. Sonja schenkte ihm wenig Beachtung, denn sie stand noch ganz unter dem Eindruck dessen, was Leon ihr erzählt hatte, der unerwarteten Nähe zu Max als Halbwüchsigem.
Der andere Mann vom Sicherheitsdienst nahm einen Anruf auf seinem Handy entgegen und drehte ihnen den Rücken zu, um nicht zu stören. Das tat er aber schließlich doch, nachdem er eine halbe Minute lang nur genickt hatte.
»Entschuldige, Tom«, sagte er, seinen Kollegen unterbrechend. »Es sieht schlecht aus bei der Stopera.«
Der Angesprochene entschuldigte sich, reichte Leon die Präsentationsmappe und fragte seinen Kollegen: »Und das Museum?«
»Viel Glasschaden. Aber rund um die Oper herrscht das totale Chaos.«
»War das die Detonation, die wir vorhin gehört haben?«, fragte Leon.
Der Mann, der Tom hieß, nickte. »Ein Gasleck, wie es scheint. Die Tiefgarage unter der Stopera steht in Flammen, und der Schaden darüber ist beträchtlich. Die Explosion war in der ganzen Stadt spürbar.«
Leon sah ihn bestürzt an. »Gibt es Tote?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sämtliche Krankenwagen von Amsterdam dorthin unterwegs sind. Wir müssen kurz ins Büro, wir sind auch für das Jüdische Historische Museum gegenüber von der Stopera zuständig, und wir müssen checken, wie groß der Schaden dort ist. Schauen Sie sich das inzwischen an?«
Er zeigte auf die Mappe. Leon nickte.
»Rufen Sie uns an, dann können wir anschließend gleich loslegen. Das heißt, falls wir noch Leute haben, die nicht bei der Stopera gebraucht werden.«
Sie nickten Sonja zum Abschied zu und verließen das Haus.
Leon schloss hinter den Männern die Tür und fragte: »Möchtest du einen Tee? Mein Gott, die Stopera, hast du das gehört?«
»Ich muss gleich Nathan abholen. Nimm mich bitte mal in die Arme.«
Er schlang die Arme um sie und drückte sie an sich. Sie würde weggehen und ihn nie mehr so halten. Sie wusste, dass er sich das nicht vorstellen konnte. Er hatte zwar Phantasie, doch die reichte nicht aus, um ihre Gedankenwelt zu erfassen. Er glaubte an das Gute und hatte keine Vorstellung von den Dämonen in ihrem Kopf. Ohne dass er es darauf angelegt hatte, ahnungslos, wie er war, hatte er sie für eine Weile vergessen lassen, dass sie ein Flüchtling war. Es war eine friedliche Zeit gewesen.
»Ich gehe Nathan abholen«, wiederholte sie und löste sich aus seiner Umarmung.
12
NATHAN
Mir war schon klar, dass ich nicht wirklich abhauen konnte, und meine Mutter kann auch ziemlich schnell Fahrrad fahren, aber ich war so wütend, dass ich ihr Gesicht nicht mehr sehen wollte. Das war so gemein und so unfair! Sie wusste ganz genau, warum ich nicht mehr wegwollte. Wieder Koffer packen? Wieder woanders hinziehen? Wieder neue Freunde suchen müssen? Ich wollte bleiben, wo ich war. Wir hatten ein
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