Ein gutes Herz (German Edition)
möglicherweise eine Bedrohung für ihn darstellten. Max war schweigsamer gewesen und hatte aktiv darauf hingewirkt, dass die Welt sich so verhielt, wie er es wollte. Früher hatte sie also einen Macher gehabt, und jetzt hatte sie einen Denker. »Schisser«, würde Max über den Denker sagen. Und der Denker würde über den Macher sagen: »Halunke.« Sonja wollte Ruhe und Sicherheit. Sie hatte Angst.
Max Kohn war in der Stadt. Wollte mit ihr reden. Und das durfte nicht sein. Es war zu viel passiert, und es gab zu vieles, wovon er nichts wusste. Dass er einen Sohn hatte, einen hübschen, sensiblen Jungen, der an jenem Tag, als sie wegging und ihre Reise um die Erde begann, kaum mehr als ein winziges Fischchen in ihrem Bauch gewesen war. Als sie ihre Koffer gepackt und sein Haus verlassen hatte, wusste sie noch nicht, dass sie schwanger war. Die Entdeckung war schrecklich. Ihre erste Anwandlung war, es wegmachen zu lassen – unmöglich, für immer mit ihm verbunden zu bleiben. Sie hatte das Kind dann doch zur Welt gebracht, weil sie nicht allein sein und jemanden haben wollte, der sie brauchte. Für ein Kind sorgen zu können war für sie schon immer das Höchste gewesen. Wenn sie nicht hintergangen wurde, war ihre Treue absolut. Und dass ihr eigenes Kind sie je hintergehen würde, war undenkbar. Der Junge würde eine verbesserte Version seines Erzeugers werden. Das Kind auszutragen war ein Akt ultimativer Souveränität gewesen.
Nach dem Telefonat mit Moszkowicz meldete Sonja sich krank und fuhr sofort nach Hause. Sie ließ sich von ihrer Intuition leiten, und die brüllte ihr zu, dass sie in Windeseile die Stadt verlassen sollte, denn Kohn war ihr auf der Spur und würde sie finden, wenn er es nicht schon getan hatte.
Sie radelte in ihrer Straße erst zweimal auf und ab, um sich zu vergewissern, ob das Haus beobachtet wurde. Kohn war verrückt genug, irgendeinem Nachbarn zehntausend Euro dafür zu bieten, dass er eine Stunde lang an dessen Fenster stehen und zu seiner Ex hinüberschauen konnte. Aber sie durfte keine Zeit verplempern. Um halb vier musste sie Nathan von der Schule abholen – normalerweise hätte Leon das gemacht –, und dann würden sie nach Schiphol fahren und den erstbesten Interkontinentalflug nehmen.
Sie betrat ihre Wohnung und warf einen raschen Blick in jedes Zimmer. Das stilvolle Haus stammte aus dem Jahr 1902 und hatte Bleiglasfenster, durchgehende Wohnzimmer mit Schiebetüren und einen Garten hintendran, der keinerlei Privatsphäre bot. Es sah nicht so aus, als ob jemand in der Wohnung gewesen wäre. Sie holte zwei Koffer hervor und packte das Nötigste für sich und Nathan. Wie schnell ihnen Kleidung und alles Übrige nachgeschickt werden konnte, wusste sie noch nicht. Kohn durfte auf keinen Fall Zugriff auf sie bekommen. Sie liebte ihn. Und sie hasste ihn.
»Sonja?«, hörte sie Leon rufen. Sie hatte ihn nicht kommen hören.
»In Nathans Zimmer!«, rief sie.
Seine schnellen Schritte auf der Treppe. Zum letzten Mal. Sie mochte ihn, aber ohne ihn würde sie auch leben können. Es war dumm gewesen, ihm nach Amsterdam zu folgen. Sie hatte viel zu viel aufs Spiel gesetzt, um bei ihm sein zu können, das wäre gar nicht nötig gewesen.
Leon betrat das Zimmer und schaute ihr stumm zu. Sie drehte sich kurz zu ihm um, sah, wie er mit verschränkten Armen und mitleidigem Blick im Türrahmen lehnte, aber sie ließ sich nicht ablenken, legte Nathans Lieblingssachen zusammen und verstaute sie in dem großen Samsonite.
»Was tust du da?«, fragte er.
»Ich packe.«
»Warum?«
»Weil ich weggehe.«
»Warum?«
»Ich will nicht riskieren, dass er mich aufsucht, in meine Nähe kommt, Nathan sieht. Wenn er Nathan sieht, weiß er, wer der Vater ist. Dafür braucht er nicht mehr als eine halbe Sekunde.«
»Darf ich mitkommen?«
Diese Möglichkeit hatte sie nicht erwogen. Aber sie verwarf die Option sofort. Er würde ihr nur im Weg sein.
»Nein.«
»Ich kann die Koffer tragen.«
»Das schaffe ich schon.«
»Ich möchte gerne bei dir sein.«
Sie nickte, während sie eine Jeans zusammenlegte. Aber das war keine Antwort. Sie wollte damit sagen: Ich weiß, dass du gerne bei mir bist. Vor ihm hatte sie nie Angst gehabt.
Leon sagte: »Du brauchst nicht vor Kohn zu fliehen. Bram sagte, dass er herzkrank war. Er hat jetzt ein fremdes Herz. Vielleicht das Herz eines sanftmütigen Menschen.«
»Es geht nicht, Leon.«
»Warum nicht?«
»Darum nicht.«
»In zehn Minuten kommen die Männer, die
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