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Ein gutes Herz (German Edition)

Ein gutes Herz (German Edition)

Titel: Ein gutes Herz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon de Winter
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Berber hatte er nicht völlig unterworfen. Im Jahre 683 wurde Uqba von den Berbern geschlagen und fiel.
    Bei seinen Leseabenteuern war Kichie auf die Geschichte der Berber-Führerin Kahina gestoßen. »Kahina« war das arabische Wort für Wahrsagerin. Manche meinten, dass das Wort vom hebräischen Cohen, Priester, abgeleitet sei. Kahina gehörte zum Stamm der Dscharawa, der in den Bergen im Osten Algeriens und im Westen Tunesiens lebte. Die Dscharawas waren, so hieß es, jüdische Berber.
    Die Geschichte existierte in vielen Versionen, vielleicht war sie nicht mehr als eine Legende, freilich eine langlebige: Kahina vertrieb mit ihren Berbern den arabischen General Hassan ibn an-Numan und zwang ihn, sich mit seinen Beduinen bis nach Ägypten zurückzuziehen. Kahina herrschte daraufhin als Berberkönigin von Karthago aus über den Norden Afrikas, bis die Wunden des Generals geheilt waren und er einen Gegenangriff starten konnte. Königin Kahina – die nicht daran zweifelte, dass die Araber zurückkehren würden – überredete ihr Volk, vorbeugend alles zu zerstören, was für die Araber von Wichtigkeit sein konnte. Städte, Dörfer, Olivenhaine, Viehherden, nichts durfte für die Araber übrigbleiben.
    Diese »Politik der verbrannten Erde« weckte Widerstand. Berberstämme entzogen sich Kahinas Autorität. Ihre Position wurde schwächer, und so schafften die Araber es dann doch, sich Karthago einzuverleiben. Als sich abzeichnete, dass sie alles verlieren würde, erteilte Kahina ihren Söhnen den Auftrag, sich den Arabern zu ergeben und zum Islam überzutreten. Wie es mit Kahina selbst weitergegangen war, konnte Kichie nirgendwo ausfindig machen. Hatte sie einen Deal geschlossen: Tötet nicht meine Söhne, sondern tötet mich? War sie im Kampf gefallen? War sie gefangen genommen und dann getötet worden?
    Über die Linie der konvertierten Söhne war Kichie ein entfernter Nachkomme Kahinas. Er hatte ihre Gene. Und sein Sohn, Sallie, trug die gleichen Gene in sich. Kämpfer. Kichie hatte die Konvertierung ungeschehen gemacht. Er war ein Berber auf der Suche nach den Ritualen seines Volkes vor deren Eliminierung durch die Araber mit ihrem Islam. Die alten Berber hatten die gleichen Götter verehrt wie die Ägypter. Auch die Berber hatten große Grabmäler gebaut. Sie teilten den Gott Amun mit den Ägyptern. All das war unter dem Schwert Mohammeds zermalmt worden.
    Das Datum seiner Entlassung aus der Haft rückte näher. Kichie hatte es überstanden. Er hatte gelesen und gelernt. Er bereute nichts, leid tat es ihm nur um seinen Sohn. Er hatte nicht miterlebt, wie Sallie groß wurde, und er wusste, dass es lange dauern würde, bis Sallie ihn akzeptierte. Sein Sohn mied ihn schon seit sechs Jahren. Vielleicht konnte er die vier, fünf Monate, die ihm noch blieben, in seiner Nähe sein.
    Beim letzten Mal hatte Sallie ihm etwas geschenkt. Kichie war vierzig geworden und durfte in einem separaten Raum mit seiner Familie zusammenkommen. Es gab sogar eine Torte mit einer Kerze darauf, die von einem Wärter angezündet wurde. Kichie war mit vierunddreißig verhaftet worden und hatte sechs Jahre Gefängnis hinter sich, als Sallie ihm eine Armbanduhr schenkte. Keine runde oder eckige, sondern eine in Herzform. Keine Rolex. Davon hatte er mehrere besessen; einige waren von Amts wegen konfisziert worden, aber er hatte noch drei in einem geheimen Depot in Luxemburg. Die Uhr, die er von Sallie bekommen hatte, war drei Jahre gegangen, bis die Batterie leer war. Danach war ihm eine neue Batterie genehmigt worden. Jeden Morgen streifte er als Erstes diese Uhr über sein Handgelenk. Und jeden Abend legte er als Letztes vor dem Schlafengehen diese Uhr neben sich. Zeit. Die Uhr lief immer noch mit der zweiten Batterie.
    Der Summton ertönte in seiner Zelle. Zu einer ungewöhnlichen Zeit. Er las gerade in der Autobiographie von Bram Moszkowicz. Das frisch erschienene Buch trug den Titel Lieber aufrecht sterben als auf Knien leben. Das war auch Kichies Lebensmotto.
    Es gab kein besonderes Procedere mehr, wenn die Tür geöffnet wurde. Gut, er musste aufstehen, und seine Hände mussten zu sehen sein.
    Ludi Damen betrat seine Zelle. Er hatte offenbar Spätschicht. Der beleibte Mann aus Den Bosch konnte, falls nötig, knallhart sein, aber Kichie machte keine Probleme. Ludi hatte einen massigen Kopf mit Doppelkinn und einen speckigen Rücken. Lief den lieben langen Tag in den Gängen auf und ab und baute dennoch Übergewicht auf.
    Komische Zeit.

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