Ein gutes Herz (German Edition)
schauten sie mir dabei zu. Ich wartete ab, was nun kommen würde. Ich hörte, wie sich die elektronischen Schlösser öffneten. Ich hörte ihre Schritte und die Handschellen, mit denen sie mir die Hände auf dem Rücken zusammenbanden. Sie zogen mir eine Skibrille über den Kopf. Die Gläser waren schwarz. Aber ich hatte schon die Augen geschlossen, daran war ich gewöhnt. Auch meine Fußgelenke wurden gefesselt, und das bedeutete, dass wir das Gefängnis verlassen würden. Mein Dschinn, über den ich noch so viel schreiben wollte, würde mich begleiten, daran zweifelte ich nicht.
Ich wusste nicht, wohin sie mich bringen würden. Aber ich hatte das Gefühl, dass jetzt alles anders werden würde. Sie führten mich aus der Zelle. Ich konnte nur kleine Schritte machen. Von unsanften Händen, die meine Oberarme umklammerten, wurde ich geführt, wie wenn ich blind und gehbehindert wäre. Niemand sagte ein Wort. Irgendetwas musste passiert sein, das wurde mir allmählich klar. Irgendetwas Kolossales war passiert. Etwas Außergewöhnliches. Etwas Wahnwitziges.
Ich hörte Nouria, meinen Dschinn, flüstern: »Satan flößt nur seinen Gefolgsleuten Furcht ein. Fürchte sie nicht, sondern fürchte Mich, wenn du gläubig bist!« Ich war nicht allein. Allah, der Erbarmer, der Barmherzige, begleitete mich. Und Nouria.
*
Kicham Ouaziz wurde beim Lesen gestört. Er hatte elf Jahre in verschiedenen Vollzugsanstalten zugebracht, und die letzten vier davon im am schwersten gesicherten Gefängnis der Niederlande, in Vught.
Er war hierhin verlegt worden, nachdem er bei einer Schlägerei mit vier Mitgliedern der Hells Angels, die ein verantwortungsloser Beamter in Kichams Flügel untergebracht hatte, fast ums Leben gekommen war. Er war ein vorbildlicher Häftling gewesen, bis auf den Nachmittag, da diese vier tätowierten Tiere sich auf ihn geworfen hatten.
Kichie hatte nicht versucht, aus dem Gefängnis auszubrechen, aber es war zu befürchten, dass ein Preis auf seinen Kopf ausgesetzt war, vermutlich seitens Unterweltkreisen, die mit den von Kichie erschossenen Männern aus dem ehemaligen Jugoslawien in Beziehung standen. Er hatte sie ermordet, weil das unvermeidlich gewesen war. Die Hells Angels sollten Vergeltung üben. Kichie musste unbedingt in ein besser gesichertes Gefängnis.
Die Jugos – sie waren gebürtige Serben, aber der Sammelbegriff »Jugo« hatte sich nun mal eingebürgert – hatten einen Anschlag auf seinen Boss und Kumpel Max Kohn begangen, und so etwas konnte in ihrer Geschäftswelt nicht ungesühnt bleiben. Kichie hatte die Sache in die Hand genommen und die beiden Schützen bestraft – ihr Auftraggeber konnte ermessen, was das zu bedeuten hatte. Doch das tat er nicht, und so musste Kichie die Verantwortung für seinen Freund ein weiteres Mal unter Beweis stellen. Er entstammte altem Berber-Adel. Er war stolz und akkurat, energisch und verlässlich. Ein Mann, ein Wort – bis zum bitteren Ende. Max Kohn war ihm immer mit Respekt begegnet, als wäre er nicht sein Boss und Auftraggeber, sondern sein Kumpel, einer wie er. Max war ein Stratege und Denker. Ein gewitzter Jude. Kichie fühlte sich ihm sehr nahe; Berber und Juden hatten vieles gemein, hatten im Norden Afrikas jahrhundertelang neben- und miteinander gelebt. Starke, ebenbürtige Stämme waren die Berber und die Juden gewesen. Es hatte sogar jüdische Berberstämme gegeben.
Kichie hatte sich eingehend mit seinen ethnischen Wurzeln befasst. Er war als Muslim erzogen worden, aber den Glauben hatte er abgelegt. Er war ein Berber, ein Barbar, wie die Byzantiner sie nannten.
Die Berber hatten jede Invasion überlebt. Sie hatten die Kulturen der Phönizier, der Römer, der Vandalen, der Byzantiner und von wer weiß wem überstanden – bis die Araber kamen. Bis ins siebte Jahrhundert hinein herrschten die Byzantiner an den Küsten Nordafrikas. Doch am Ende jenes Jahrhunderts kamen die Araber. Von Ägypten ausgehend eroberten sie den gesamten Norden, einschließlich des heutigen Marokko. Auf ihrem Weg löschten sie die lokalen und regionalen Kulturen und Traditionen aus oder unterwarfen sie der Botschaft des Propheten Mohammed. (Die starken Verteidigungsmauern des byzantinischen Karthago konnten sie erst beim zweiten Anlauf 698 schleifen.)
Der Überlieferung nach schlug der Muslimführer Uqba ibn Nafi am Ende frustriert mit seinem Schwert auf die Wellen des Atlantischen Ozeans, weil kein Land mehr da war, das er noch hätte erobern können.
Aber die
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