Ein gutes Herz (German Edition)
des Flugzeugs austauschen. Die holländischen Feiglinge hatten natürlich gleich klein beigegeben. Gegen einhundert oder zweihundert bleiche, sittenlose Touristen ließen sie mich frei.
Ich hatte mein viertes Gebet noch nicht gesprochen. Nouria flüsterte mir ins Ohr, was ich dafür zu verrichten hatte: »O die ihr glaubt, wenn ihr euch zum Gebet aufstellt, dann wascht euch das Gesicht und die Hände bis zu den Ellbogen und streicht euch über den Kopf und wascht euch die Füße bis zu den Knöcheln. Und wenn ihr im Zustand der Unreinheit seid, dann reinigt euch. Und wenn ihr krank seid oder auf einer Reise oder jemand von euch vom Abort kommt oder ihr Frauen berührt habt und dann kein Wasser findet, so wendet euch dem guten Erdboden zu und streicht euch damit über das Gesicht und die Hände. Allah will euch keine Bedrängnis auferlegen, sondern Er will euch reinigen und Seine Gunst an euch vollenden, auf dass ihr dankbar sein möget.«
Nouria wusch mein Gesicht und meine Hände bis zu den Ellbogen und danach meine Füße bis zu den Knöcheln. Ich war rein. Ich konnte die Reise antreten.
*
Kurz bevor sie in den Truck stiegen, hatte Ludi ihm die Handschellen abgenommen, und nun saß Kicham Ouaziz als freier Mann auf der harten Sitzbank des dahinrasenden Fahrzeugs. Das hieß, man betrachtete ihn nicht mehr als Häftling, was wiederum nur bedeuten konnte, dass man ihm die letzten zehn Monate erlassen hatte. Ein Flugzeug war gekapert worden, und Boujeri wurde jetzt nach Schiphol gebracht; die Flugzeugentführer hatten also offensichtlich seine Freilassung ausbedungen. Folglich hatten Extremisten das Flugzeug gekapert, durchgeknallte Dschihadisten, die ihren Helden freibekommen wollten. Und das bekamen sie offensichtlich. Aber was er damit zu tun hatte, begriff er nicht. Er war nie ein frommer Muslim gewesen. Und seit seinem achtzehnten Lebensjahr hatte er keine Moschee mehr von innen gesehen.
Boujeri hatte ihm ein paar Fragen gestellt, und er hatte keine Veranlassung gesehen, ihm nicht darauf zu antworten. Boujeri saß so regungslos da wie ein Zombie. Die Skibrille mit den dunklen Gläsern, die man ihm aufgesetzt hatte, verhinderte, dass Kichie seine Augen sehen und etwas daraus ablesen konnte. Boujeri war mit Fußfesseln am Boden festgekettet und mit den auf den Rücken gebundenen Händen an der Seitenwand des Trucks. Sie wollten bei ihm kein Risiko eingehen. Sie wollten ihm noch einmal demonstrieren, wer hier die Macht hatte.
Boujeri hatte einen kahlrasierten Schädel, und sein Kinn bedeckte ein schütteres Bärtchen, das er auch schon gehabt hatte, als er van Gogh tötete und als er vor Gericht stand. Die Gene für einen dichten Bartwuchs fehlten ihm offenbar. Auch auf der Oberlippe war kaum etwas davon zu erkennen. Ein echter Salafisten-Kranzbart. Auf der Stirn ein Mal vom Kontakt mit dem Gebetsteppich; er war noch jung, ein solches Mal trat meist erst bei Salafisten über fünfzig auf, nach jahrzehntelangem intensivem Beten. Boujeri hatte es jetzt schon. Als Ehrenmal.
Kichie trug wie Boujeri eine weiche Trainingshose, T-Shirt und Kapuzenjacke. Boujeri hatte keine Schuhe an. Lächerlich, dass ihm die verwehrt worden waren. Unwillkürlich suchte Kichie auf dem Boden nach Schuhen und entdeckte tatsächlich ein Paar Turnschuhe in der Ecke neben einer der beiden Hecktüren.
»Deine Turnschuhe stehen hier«, sagte er zu Boujeri.
»Wo?«
»Sie haben sie hier hingestellt. Möchtest du, dass ich sie dir anziehe?«
Boujeri antwortete leise: »Ja, gern. Das ist freundlich von dir.«
Kichie rutschte auf der Bank zu der Ecke hin, beugte sich vor und nahm die Turnschuhe auf. Sich mit einer Hand an Seitenwand und Dach festhaltend, ging er zu Boujeri hinüber und kniete sich vor ihn hin. Er nahm Boujeris linken Fuß, den er wegen der straff am Boden befestigten Fesseln nur wenige Zentimeter anheben konnte, doch das reichte, um ihm den biegsamen Turnschuh über den Fuß zu schieben und den Klettverschluss zuzudrücken – für Boujeri keine Schnürsenkel. Gleiches machte Kichie mit dem rechten Fuß.
Der Truck hatte eine gute Straßenlage und wurde auch bei der hohen Geschwindigkeit, mit der sie über die A 2 fuhren, kaum erschüttert. Bei ihnen im Laderaum waren zwar keine Fenster, aber es musste die A 2 sein, auf der sie unterwegs waren, denn sie stellte die kürzeste und schnellste Verbindung von Vught nach Schiphol dar. Schade, dass er keinen Blick auf den dahinrasenden Konvoi mit den Motorrädern und BMW s werfen
Weitere Kostenlose Bücher