Ein Hauch von Schnee und Asche
die Hände gründlichst mit einem in Alkohol und Terpentin getränkten Tuch ab und reinigte jeden Fingernagel, obwohl es schmerzte. Ich benahm mich, so begriff ich, als hätte er eine üble, ansteckende Krankheit. Doch ich konnte nicht anders.
Lionel Brown beobachtete mich angespannt.
»Was habt Ihr vor?«
»Ich habe mich noch nicht entschieden.« Das entsprach mehr oder weniger der Wahrheit. Es war kein bewusster Entscheidungsprozess gewesen, obwohl meine Handlungsweise – oder meine Tatenlosigkeit – feststand. Jamie – zum Teufel mit ihm – hatte Recht gehabt. Doch ich sah keinen Grund, Lionel Brown das zu sagen. Noch nicht.
Er öffnete gerade den Mund, zweifellos, um mich weiter anzuflehen, doch ich gebot ihm mit einer scharfen Handbewegung Einhalt.
»In Eurer Begleitung war ein Mann namens Donner. Was wisst Ihr von ihm?«
Was er auch immer erwartet hatte, das war es nicht. Sein Mund stand ein wenig offen.
»Donner?«, wiederholte er mit unsicherer Miene.
»Wagt es nicht, mir zu sagen, dass Ihr Euch nicht an ihn erinnert«, sagte ich, und meine Erregung ließ mich laut werden.
»O nein, Ma’am«, versicherte er mir hastig. »Ich erinnere mich gut an ihn, wirklich! Was -«, seine Zunge berührte seinen wunden Mundwinkel, »- was wollt Ihr denn von ihm wissen?«
Was mich am meisten interessierte, war, ob er tot war oder nicht, doch das wusste Brown mit ziemlicher Sicherheit nicht.
»Fangen wir mit seinem vollen Namen an«, schlug ich vor und setzte mich zögerlich neben ihn, »und machen dann weiter.«
Es stellte sich heraus, dass Brown kaum mehr mit Gewissheit über Donner wusste als seinen Namen – welcher, wie er sagte, Wendigo war.
»Was?«, sagte ich ungläubig, doch Brown schien daran nichts Merkwürdiges zu finden.
»Das hat er gesagt«, sagte er und klang verletzt, weil ich es anzuzweifeln schien. »Indianerwort, nicht wahr?«
Ja. Um genau zu sein, war es der Name eines Monsters aus der Mythologie eines Stammes im Norden – ich konnte mich nicht erinnern, welcher. Brianna hatte in der Highschool eine Unterrichtseinheit über die Mythen der Ureinwohner gehabt, und jedes Kind sollte eine bestimmte Geschichte erklären und illustrieren. Brianna hatte den Wendigo genommen.
Ich erinnerte mich nur daran, weil sie dazu ein Bild gemalt hatte, das mich eine ganze Weile nicht losgelassen hatte. Es war in einer Art Negativtechnik entstanden, die eigentliche Zeichnung mit weißem Wachsmalstift, der durch eine schwarze Kohleschicht lugte. Bäume, die in einem Wirbel aus Schnee und Wind hin- und herschwankten, blattlos und mit fliegenden Nadeln, die Lücken zwischen ihnen ein Teil der Nacht. Man musste es mehrere Sekunden lang ansehen, bevor man das Gesicht zwischen den Ästen erspähte. Ich hatte aufgeschrien und das Blatt fallen gelassen, als ich es sah – zu Briannas großer Genugtuung.
»Das kann man wohl sagen«, sagte ich und unterdrückte die Erinnerung an das Gesicht des Wendigos entschlossen. »Woher kam er? Hat er in Brownsville gelebt?«
Er hatte nur ein paar Wochen in Brownsville verbracht. Hodgepile hatte ihn von irgendwoher mitgebracht, zusammen mit seinen anderen Männern. Brown hatte keine Notiz von ihm genommen; er hatte keinen Ärger gemacht.
»Er hat bei der Witwe Baudry gewohnt«, sagte Brown, der plötzlich hoffnungsvoll klang. »Vielleicht hat er Ihr ja etwas von sich erzählt. Ich könnte
es für Euch herausfinden. Wenn ich nach Hause komme.« Er warf mir einen Blick zu, der wohl das Vertrauen eines Hundes ausdrücken sollte, aber eher an einen sterbenden Molch erinnerte.
»Hmm«, sagte ich und sah ihn extrem skeptisch an. »Wir werden sehen.«
Er leckte sich die Lippen und versuchte, sich ein Mitleid erregendes Aussehen zu geben.
»Könnte ich vielleicht etwas Wasser haben, Ma’am?«
Ich konnte ihn wohl kaum verdursten lassen, aber ich hatte wirklich genug davon, den Mann persönlich zu bedienen. Ich wünschte, er verschwände aus meinem Sprechzimmer, aus meinen Augen. Ich nickte knapp und trat in den Flur. Dort rief ich nach Mrs. Bug und bat sie, ihm etwas Wasser zu bringen.
Der Nachmittag war warm, und ich fühlte mich unangenehm reizbar, nachdem ich Lionel Brown versorgt hatte. Ohne Vorwarnung schoss mir plötzlich eine Hitzewelle über Brust und Hals und lief mir wie heißes Wachs über das Gesicht, so dass mir der Schweiß hinter den Ohren ausbrach. Mit einer gemurmelten Entschuldigung überließ ich Mrs. Bug den Patienten und eilte hinaus an die willkommene
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