Ein Hauch von Schnee und Asche
meine Stirn. Wo in aller Welt hatte sie das gehört? Als ich glaubte, sprechen zu können, ließ ich die Hände sinken und öffnete die Augen.
»Sie war nicht seine Geliebte, und ich habe sie nicht umgebracht. Was den Rest betrifft – ja, es stimmt«, sagte ich, so ruhig ich konnte.
Sie starrte mich einen Moment mit offenem Mund an. Dann schloss sie ihn abrupt und verschränkte die Arme über dem Bauch. »Da hat mir George Webb ja eine schöne Hebamme gesucht!«, sagte sie – und zu meiner großen Überraschung fing sie an zu lachen. »Er weiß es nicht, oder?«
»Ich gehe nicht davon aus«, sagte ich extrem trocken. »Ich habe es ihm jedenfalls nicht gesagt. Wer hat es Euch erzählt?«
»Oh, Ihr seid ziemlich berüchtigt, Mrs. Fraser«, versicherte sie mir. »Alle Welt redet darüber. George hat keine Zeit für Gerüchte, doch selbst er muss davon gehört haben. Allerdings hat er keinerlei Namensgedächtnis. Ich schon.«
Ihr Gesicht nahm jetzt wieder ein wenig Farbe an. Sie nahm noch einen Bissen Toast, kaute und schluckte vorsichtig.
»Aber ich war mir nicht sicher, dass Ihr es wart«, räumte sie ein. »Erst, als ich gefragt habe.« Sie schloss die Augen und zog eine skeptische Miene, doch offenbar schaffte es der Toast bis unten, denn sie öffnete die Augen wieder und knabberte weiter.
»Und jetzt, da Ihr es wisst...?«, fragte ich vorsichtig.
»Ich weiß es nicht. Ich bin noch nie einer Mörderin begegnet.« Sie schluckte den letzten Toast und leckte sich die Fingerspitzen ab, bevor sie sie an ihrer Serviette abwischte.
»Ich bin keine Mörderin«, sagte ich.
»Nun, es war natürlich zu erwarten, dass Ihr das sagt«, pflichtete sie mir bei. Sie ergriff ihre Teetasse, über deren Rand hinweg sie mich neugierig betrachtete. »Ihr seht jedenfalls nicht heruntergekommen aus – obwohl ich sagen muss, ganz respektabel sehr Ihr auch nicht aus.« Sie neigte die duftende Tasse und trank mit einer seligen Miene, die mir zu Bewusstsein
brachte, dass ich seit der spärlichen Schüssel mit ungesalzenem Porridge, den es bei Mrs. Tolliver zum Frühstück gegeben hatte, nichts mehr gegessen hatte.
»Ich muss darüber nachdenken«, sagte Mrs. Martin und stellte ihre Tasse leise klirrend nieder. »Bringt das zurück in die Küche«, sagte sie und wies auf das Tablett, »und lasst mir etwas Suppe bringen und vielleicht ein paar Häppchen. Ich glaube, ich habe meinen Appetit wiedergefunden!«
Tja, und was jetzt, zum Kuckuck? Der Übergang vom Gefängnis zum Palast war so abrupt gewesen, dass ich mir vorkam wie ein Matrose, der nach Monaten auf See einfach so an Land gesetzt wurde und völlig aus dem Gleichgewicht umherschwankte. Wie angewiesen, begab ich mich gehorsam hinunter in die Küche, besorgte ein Tablett – mit einer ausgesprochen köstlich duftenden Suppe – und brachte es wie ein Automat zu Mrs. Martin.
Als sie mich aus dem Zimmer schickte, hatte mein Gehirn endlich wieder zu funktionieren begonnen, wenn auch noch nicht mit seiner ganzen Kapazität.
Ich war in New Bern. Und, Dank sei Gott und Sadie Ferguson, nicht länger in Sheriff Tollivers verseuchtem Gefängnis. Fergus und Marsali waren in New Bern. Ergo gab es nichts Offensichtlicheres – und eigentlich auch nichts anderes – zu tun, als zu entwischen und mich zu ihnen durchzuschlagen. Sie konnten mir helfen, Jamie zu suchen. Ich klammerte mich fest an Tom Christies Versprechen, dass Jamie nicht tot war, und an den Gedanken, dass wir ihn finden würden , denn alles andere war undenkbar.
Die Flucht aus dem Gouverneurspalast erwies sich jedoch als schwieriger, als ich geahnt hatte. An allen Türen waren Wachen postiert, und mein Versuch, mich an einem von ihnen vorbeizudiskutieren, scheiterte kläglich und resultierte in Mr. Webbs abruptem Erscheinen. Dieser nahm mich beim Arm und eskortierte mich zielsicher die Treppe hinauf in ein heißes, stickiges Mansardenzimmerchen, wo er mich einschloss.
Es war besser als das Gefängnis, aber das war auch schon alles, was sich zu seiner Verteidigung vorbringen ließ. Es gab ein Bett, einen Nachttopf, Schüssel und Wasserkrug und eine Kommode, deren Schubladen einige spärliche Kleidungsstücke enthielten. Das Zimmer war allem Anschein nach unlängst noch bewohnt gewesen – jedoch nicht in den letzten Tagen. Ein feiner Film aus Sommerstaub hatte sich über alles gelegt, und der Krug war zwar mit Wasser gefüllt, doch es war anscheinend schon seit einiger Zeit darin; eine Anzahl Motten und anderer
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