Ein Hauch von Schnee und Asche
Roger MacKenzie aus Fraser’s Ridge und seine Frau – ein Mädchen, am einundzwanzigsten April. Mutter und Kind sind bei guter Gesundheit, der Name des Kindes wird mit Amanda Claire Hope MacKenzie angegeben.
Roger hatte noch nie solche Angst gehabt wie in dem Moment, als man ihm seine neu geborene Tochter das erste Mal in die Arme legte. Sie war gerade ein paar Minuten alt, ihre Haut war so zart und so perfekt wie die einer Orchidee, und sie war so zerbrechlich, dass er befürchtete, Fingerabdrücke auf ihr zu hinterlassen – und so unwiderstehlich, dass er sie einfach berühren musste. Er fuhr ihr mit der Oberseite seines Fingers sanft, ganz sanft über die wunderschöne, kleine runde Wange und strich ungläubig mit dem Zeigefinger über das schwarze Spinnengewebe ihrer Haare.
»Sie sieht aus wie du.« Brianna lehnte verschwitzt, zerzaust, mit unbewohntem Bauch – und so wunderschön, dass er ihren Anblick kaum ertragen konnte – in den Kissen und grinste wie eine Cheshirekatze, ein Grinsen, das nie ganz verschwand, obwohl es die Müdigkeit hin und wieder verwischte.
»Wirklich?« Er betrachtete das winzige Gesicht absolut hingerissen. Nicht, um nach Spuren seiner selbst zu suchen, sondern weil er den Blick nicht von ihr abwenden konnte.
Er kannte sie ja schon sehr gut, weil er monatelang immer wieder von ihren Tritten oder Boxhieben geweckt worden war, oder zugesehen hatte, wie sich Briannas Bauch hob und senkte, oder weil er spürte, wie sich das Baby unter seinen Händen vorschob und wieder zurückzog, während er hinter seiner Frau lag, ihren Bauch umfasste und dabei Witze machte.
Aber für ihn war sie Klein-Otto gewesen, so nannte er das ungeborene Kind insgeheim. Otto hatte seine ganz eigene Persönlichkeit – und einen Moment lang spürte er einen lächerlichen Stich des Verlustes, als er begriff, dass es Otto nicht mehr gab. Dieses winzige, zarte Wesen war jemand völlig Neues.
»Meinst du, sie ist Marjorie?« Brianna blinzelte das Bündel an, das in eine Decke gewickelt war. Monatelang hatten sie über Namen diskutiert, sich über die Vorschläge des anderen lustig gemacht, lächerliche Vorschläge wie Montgomery oder Agatha gemacht. Am Ende hatten sie vorläufig beschlossen, dass es Michael heißen würde, wenn es ein Junge war; wenn es ein Mädchen war, Marjorie nach Rogers Mutter.
Seine Tochter öffnete ganz plötzlich die Augen und sah ihn an. Ihre Augen standen schräg; er fragte sich, ob das wohl so bleiben würde – wie bei ihrer Mutter? Eine Art sanftes Mittelblau wie der Himmel am Vormittag – auf den ersten Blick nichts Besonderes, doch wenn man direkt hineinsah … grenzenlose Weite.
»Nein«, sagte er leise und starrte unverwandt in diese Augen. Konnte sie ihn schon sehen?, fragte er sich.
»Nein«, sagte er noch einmal. »Ihr Name ist Amanda.«
Anfangs hatte ich nichts gesagt. Es war nichts Ungewöhnliches bei Neugeborenen – vor allem, wenn sie etwas zu früh auf die Welt kamen wie Amanda -, kein Grund zur Sorge.
Der Ductus arteriosus ist ein kleines Blutgefäß, das beim Embryo die Aorta mit der Pulmonalarterie verbindet. Natürlich hat ein Baby Lungen, doch vor der Geburt benutzt es sie nicht; der Sauerstoff kommt durch die Nabelschnur aus der Plazenta. Daher müssen die Lungen nur durchblutet werden, um das entstehende Gewebe zu ernähren – und der Ductus arteriosus umgeht den Lungenkreislauf.
Bei der Geburt holt das Baby zum ersten Mal Luft, und Sauerstoffsensoren in diesem kleinen Gefäß bringen es dazu, sich zusammenzuziehen – und sich für ewig zu schließen. Wenn es geschlossen ist, fließt das Blut vom Herzen in die Lungen, wo es Sauerstoff aufnimmt und dann zurückkommt, um in den restlichen Körper gepumpt zu werden. Ein cleveres, elegantes System – nur funktioniert es manchmal nicht richtig.
Der Ductus arteriosus schließt sich nicht immer. In diesem Fall fließt natürlich immer noch Blut in die Lungen – aber die Umgehung bleibt ebenfalls. In etlichen Fällen läuft zu viel Blut in die Lungen und sammelt sich dort. Die Lungen schwellen an, verstopfen, und die Sauerstoffversorgung des Körpers wird problematisch – ab und zu ganz akut.
Ich ließ mein Stethoskop über die winzige Brust wandern, presste mein Ohr fest darauf und lauschte gebannt. Es war mein bestes Stethoskop, ein Modell aus dem neunzehnten Jahrhundert, das man Pinard nannte – am einen Ende hatte es eine Glocke mit einer flachen Scheibe, an die ich mein Ohr drückte. Ich
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