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Ein Held unserer Zeit

Ein Held unserer Zeit

Titel: Ein Held unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Lermontow
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war verdorrt, erstorben, vernichtet; ich riß sie aus und warf sie fort. Die andere Hälfte aber pulsirte und lebte noch zum Dienst der Menschheit; und Niemand bemerkte diese Veränderung, weil Niemand um die Existenz der zu Grunde gegangenen Hälfte gewußt hatte. Jetzt haben Sie die Erinnerung an dieselbe in mir wachgerufen und ich habe Ihnen ihre Grabschrift gelesen. Den meisten Menschen erscheinen Grabschriften lächerlich; mir nicht; vor allen Dingen nicht, wenn ich daran denke, was unter ihnen begraben liegt. Uebrigens bitte ich Sie, nicht meine Ansicht zu theilen: wenn Sie meine Tirade lächerlich finden, – bitte, lachen Sie darüber; ich versichere Sie zum Voraus, daß mich das durchaus nicht beleidigen wird."
     
    In diesem Augenblick sah ich sie an. Es rollten Thränen aus ihren Augen; ihre Hand zitterte auf meinem Arm; ihre Wangen glühten; sie hatte Mitleid mit mir! Mitleid – ein Gefühl, dem sich alle Frauen so leicht hingeben! Ja, Mitleid hatte ihr unerfahrenes Herz ergriffen.
     
    Während des ganzen Restes unseres Spazierganges war sie zerstreut und nachdenklich und vernachlässigte sogar ihre Koketterie – ein bedeutsames Zeichen!
     
    Wir kamen nach der Schlucht. Die anderen Damen verließen ihre Cavaliere, aber sie blieb auf meinen Arm gestützt. Die Witzeleien unserer Dandys ließen sie gleichgiltig; sie neigte sich über den Rand des Kraters, ohne die geringste Furcht zu zeigen, während die andern Damen voll Entsetzen aufschrien und die Augen schlossen.
     
    Auf dem Heimwege nahm ich unsere trübselige Unterhaltung nicht wieder auf, aber auf alle meine Fragen und Scherze antwortete sie kurz und zerstreut.
     
    "Haben Sie je geliebt?" fragte ich sie endlich.
     
    Sie blickte mich fest an, schüttelte das Köpfchen und versank wieder in ihre Träumerei. Offenbar wollte sie mir etwas sagen, aber sie wußte nicht, wie sie beginnen sollte, ihre Brust hob und senkte sich ... Ja, ja, ein Mousselinärmel ist eine schwache Schutzwehr, und ein elektrischer Funken zuckte aus meinem Arm in den ihrigen; fast alle Leidenschaften beginnen so, und wir täuschen uns in der Regel sehr, wenn wir glauben, die Frauen liebten uns wegen unserer physischen oder moralischen Vorzüge. Freilich, sie bereiten uns den Boden und machen ihr Herz geneigt, das heilige Feuer in sich aufzunehmen; allein die erste Berührung entscheidet Alles.
     
    "Nicht wahr, ich bin heut' sehr liebenswürdig gewesen?" sprach sie mit gezwungenem Lächeln zu mir, als wir an ihrer Thür angekommen waren.
     
    Wir schieden. Sie ist unzufrieden mit sich; sie macht sich Vorwürfe wegen ihrer Kälte ... O, das ist der erste wichtigste Erfolg!
     
    Morgen wird sie mich entschädigen wollen. Ich weiß das Alles zum Voraus – und das ist das Langweilige dabei.
     
     
    * * *
     
     12. Juni.
     
     
    Heut' habe ich Wera gesehen. Sie quälte mich mit ihrer Eifersucht. Wie es scheint, hat Mary den Einfall gehabt, ihr ihre Herzensgeheimnisse anzuvertrauen. Ich muß gestehen, sie hat eine glückliche Wahl getroffen!
     
    "Ich sehe voraus, womit dies Alles enden wird," sagte Wera zu mir. "Sei offenherzig. Sage mir gerade heraus: liebst du sie?"
     
    "Und wenn ich sie nicht liebe?"
     
    "Warum sie dann verfolgen und aufregen und ihre Phantasie erhitzen! ... O, ich kenne dich! Höre, wenn du willst, daß ich dir glaube, so reisest du in acht Tagen nach Kislowodsk. Wir begeben uns übermorgen dorthin. Die Fürstin bleibt hier noch einige Zeit. Miethe dir in unserer Nähe eine Wohnung. Wir werden ein großes Haus neben der Quelle beziehen; die Fürstin Ligowski wird die untern Räume bewohnen; neben unserm Hause ist noch ein anderes frei, und das kannst du dir miethen ... Wohlan, kommst du?"
     
    Ich versprach noch an diesem selben Tage mir das Haus miethen zu lassen.
     
    Gegen sechs Uhr kam Gruschnitzki zu mir und theilte mir mit, daß morgen, also gerade vor dem Balle, seine Uniform fertig sein werde.
     
    "Endlich werde ich den ganzen Abend mit ihr tanzen können," setzte er hinzu; "und ich kann nun frei und offen mit ihr reden."
     
    "Wann ist dieser Ball?"
     
    "Ei, morgen! Hast du das nicht gewußt? Morgen ist ein großer Festtag, und die hiesige Behörde hat Alles in die Hand genommen."
     
    "Wir wollen nach dem Boulevard gehen."
     
    "Wie, mit diesem abscheulichen Mantel!"
     
    "Er gefällt dir also nicht mehr?"
     
    Ich ging allein, begegnete der Fürstin Mary und engagirte sie zu einer Mazurka. Sie schien darüber eben so erstaunt wie

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