Ein Jahr – ein Leben
permanent in Kontrolllosigkeit eintauchen möchte. Das ist dann der Blickaustausch mit einem Fremden, nur für eine Sekunde blitzt eine Geschichte auf, das Gefühl überfällt dich einfach so, und du hast es nicht im Griff … So könnte ich mehrere tausend Jahre verbringen! Beim Drehen ist es genau umgekehrt, da lasse ich mich oft zu sehr gehen. Immer wieder muss ich mir dann sagen: Die Zuschauer müssen in dieser Szene gepackt werden, nicht du! Das ist mein Problem, bis heute. Auch bei Lesungen geht es mir manchmal so. Da muss nur jemand im Publikum kurz schluchzen – und schon reißt es mich. Oft saß ich mit feuchten Augen da und habe versucht irgendwie weiterzulesen. Ich weiß, professionell ist das nicht.
Haben Sie mit Ihren Eltern oder mit Ihren Großeltern über das Thema Nationalsozialismus diskutiert?
Mit meinen Großeltern nicht, nein. Meine Mutter wurde in den letzten Monaten des Krieges bei Krupp in die Fabrik eingezogen. Mehr weiß ich nicht.
Was sagt Ihre Mutter zu Ihren Lesungen gegen das Vergessen des Holocaust?
Darüber hat sie mit mir noch nie geredet. Ich habe sie auch noch nie darauf angesprochen. Und mein Vater? Er war an der Front. Meine Eltern haben sich früh scheiden lassen, ich hatte viele Jahre keinen Kontakt zu ihm. Sehr spät in seinem Leben waren wir dann wieder auf Augenhöhe, er ist auch einmal nach Israel geflogen. Heute denke ich manchmal, dass ich die Reise mit ausgelöst habe. Er wusste von meiner Beziehung zu einem jüdischen Mann und von meiner Haltung. Aber wir haben keine Zeit mehr gehabt, darüber zu reden.
Es ist für diese Generation bis heute schwer, darüber mit ihrer Familie zu reden. Öffentlich und allgemein, das schon, aber nicht im eigenen Umfeld.
Ja, ich merke es sogar an mir selber, ich spreche meine Mutter auch nicht darauf an. Sonst fordere ich das ja immer ein, lass uns diskutieren, erzähl doch mal.
Wie sind Sie an das Thema herangeführt worden?
Erst gab es die lange Zeit der Sprachlosigkeit, in der ich groß geworden bin. Dann wurde die Diskussion von den 68 ern eingefordert, aber oft sehr konfrontativ. Differenziert wurde selten. Heute ist der zeitliche Abstand größer, viele aus der Tätergeneration sind tot, deswegen tauchen andere Fragen auf. Fertig wird die Geschichte nie. Das Thema ist viel zu komplex, um eines Tages zu Ende diskutiert zu sein. Etwas ganz Ähnliches wird übrigens geschehen im Umgang mit der Geschichte der DDR . Wer war ein Täter, wer nicht, warum oder warum nicht? Auch diese Diskussion wird sich verändern, je länger der Fall der Mauer her ist. Sie wird hoffentlich individueller, genauer, weniger schwarz-weiß geführt werden.
»Der Vater bin ich –
aber wer ist die Mutter?«
Das zweite Treffen findet wieder im Café Einstein statt, wieder bei einer heißen Schokolade für die Interviewte, bei einem Cappuccino für den Interviewer. Es ist der 6 . Dezember, Nikolaus, ein Dienstag. Gestern Abend wurde der Film »Liebesjahre» im ZDF ausgestrahlt.
War der gestrige Abend ein besonderer für Sie?
Ja. Es gibt ein paar Arbeiten, in denen steckt besonders viel Herzblut. Ich habe während der Dreharbeiten Matti Geschonneck einmal angesprochen und gesagt: »Ich wusste immer um Ihre Genauigkeiten, deswegen sage ich blind zu bei jedem Film, den Sie mir anbieten, und diesen haben wir ja sogar gemeinsam entwickelt. Ich weiß um Ihre Seriosität, aber diesmal habe ich das Gefühl, Sie gehen noch weiter, Sie bohren noch tiefer, sind noch seltener zufrieden.«
Während der Dreharbeiten? Wie zeigt sich das?
Indem du bestimmte Szenen nicht nur fünfmal, sondern zehnmal spielst oder fünfzehnmal. Indem es um Nuancen geht, um einen Blick, der zu früh kommt, ein Atemholen, das an der falschen Stelle liegt.
Und was hat der Regisseur Ihnen geantwortet?
»Ja, mag sein. Ich bin genauso nervös vor diesem Film. Ich fange genau wie Sie neu an.« Es gibt natürlich Regisseure, die bei einer vergleichbaren Konstellation mit sehr großem Können und enormem Selbstbewusstsein und viel Erfahrung die vier Königstiger …
… damit meinen Sie die vier Hauptdarsteller …
… wie ein strenger Dompteur durch die Manege führen. Matti war da anders, zweifelnder, wie er selbst sagte: nervöser. Mich hat das überhaupt nicht nervös gemacht, als ich das gespürt habe, ganz im Gegenteil. Das ist ja auch meine Sicht auf den Beruf: die Unsicherheit …
… zeigen.
Nicht nur zeigen, ich gehe noch einen Schritt weiter: Ich suche die Unsicherheit. Nicht
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