Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
die Küchentür hinter ihnen beiden.
Er zuckte hilflos mit den Schultern. „Sie stand gegen sechs
Uhr einfach vor der Tür. Ich hatte geöffnet und sie hat erklärt, sie sei deine
Mutter und würde dich besuchen kommen, da habe ich sie reingelassen. Du musst
mir dringend mal deine und die Handy-Nummer von deinem Lover geben, damit ich
dich erreichen kann. Ich glaube, sie schläft jetzt. Vorhin hat sie viel
geweint, ich habe sie immer wieder schniefen hören, aber ich wusste auch nicht,
was ich machen sollte, außer ihr etwas zu trinken anzubieten.“
Emily ließ sich auf einen der Küchenstühle sinken. Sie hatte
doch richtig gerochen, es war das Maiglöckchenparfum ihrer Mutter, allerdings
vermischt mit einem Geruch, der ein wenig ungewaschen und muffig war und den
sie so nicht kannte.
„Ich versteh das nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. Niemals
würde ihre Mutter ohne ihren Vater die weite Reise antreten und noch dazu
unangekündigt bei ihr einfallen. Das verstieß gegen sämtliche Benimmregeln, mit
denen es ihre Mutter sonst sehr genau nahm.
„Ich lass dich jetzt allein, kommst du klar?“, fragte
Thorsten vorsichtig.
Emily nickte abwesend. Dann sprang sie auf: „Thorsten“ rief
sie ihm hinterher, „kann ich deine Gästematratze haben?“
Thorsten zögerte ein wenig. „Nadine ist da, aber das kriegen
wir schon auch so hin.“
Emily nickte dankbar, während Thorsten mit Nadines Hilfe die
Matratze in den Flur schleifte. „Vielen Dank euch beiden und schlaft schön“,
konnte sie noch sagen, ehe sie sich schnell im Bad fertig machte und dann
behutsam die Zimmertür öffnete. Tatsächlich, da lag ihre Mutter in Emilys Bett
und schlief, oder zumindest tat sie so, als ob sie schlief. Emily legte die
Matratze vor das Bett und öffnete vorsichtig ihren Schrank, um den Schlafsack
und ein altes Kissen rauszuholen. Dann legte sie sich hin. Während sie noch
grübelte, was ihre kranke Mutter zu der weiten, anstrengenden Reise bewegt
haben mochte, spürte sie, wie die Hand ihrer Mutter auf Emilys Matratze
tastete, bis sie ihren Kopf fand, den sie sanft streichelte.
Emily ergriff die Hand,
die plötzliche Vertrautheit war ihr nach den letzten Monaten doch ein wenig
unheimlich. „Hallo Mama, willkommen in Heidelberg.“ Ihre Mutter seufzte nur.
„Wir reden morgen, ok?“, fragte Emily hilflos. Sie fühlte sich nach dem Abend
bei Josue zu erschöpft, um jetzt noch lange Gespräche führen zu können. Ihre
Mutter gab einen zustimmenden Laut von sich, seufzte noch einmal, drehte sich
dann aber zur anderen Seite und Emily hörte, wie ihre Atemzüge langsam tiefer
wurden. Auch Emily glitt allmählich in den Schlaf. Sie sah, wie Josue mit den
Kindern am Nordseestrand entlangtollte. Ihr Vater und ihre Mutter waren auch
mit von der Partie und die Idylle schien perfekt zu sein, als ihr Vater
liebevoll mit Flo eine Sandburg baute und ihre Mutter Lizzy in ein ernsthaftes
Gespräch über richtige Haushaltsführung verwickelte. Doch plötzlich sah Emily
eine riesige Sturmflut herannahen, die bereits die ersten Strandkörbe wie
Streichholzschachteln zerquetschte und verschluckte. Sie wollte die anderen
warnen, die weiter vorne am Strand waren als sie, aber es kam kein Laut aus
ihrem aufgerissenen Mund. Sie musste mit ansehen, wie alle fünf von der Flut
verschluckt wurden. Eigenartigerweise wurde sie selbst nicht nass und der Sturm
krümmte ihr kein Haar, als die gewaltige Flut mit ihrer Beute wieder zurück ins
Meer schwappte. Sie schreckte auf und setzte sich. Dann griff sie nach der
Wasserflasche, um die bedrohlichen Bilder wegzuspülen. Allerdings dauerte es
lange, bis sie wieder einschlief, weil sie sich immer wieder fragte, was der
Traum wohl bedeuten könnte.
Am nächsten Morgen, als ihre Mutter noch schlief, rief sie
im Altenheim an, um Bescheid zu sagen, dass sie zwei Stunden später kommen
würde. Natürlich waren sie nicht begeistert, weil gerade die ersten zwei
Stunden die anstrengendsten waren. Emily erklärte jedoch, dass ein persönlicher
Notfall vorläge und sie ja sonst immer pünktlich gewesen sei. Dann holte sie
Brötchen, machte Kaffee und deckte den Frühstückstisch mit dem besten Geschirr
ihrer kleinen WG. Als sie fertig war, stand ihre Mutter in der Tür. Sie hatte
bereits ihren Hüftprotektor angelegt und war deutlich abgemagert. Sie wirkte so
verloren wie eine Vogelscheuche, die schon einige Winter unter freiem Himmel
überstanden hatte.
Sie musterte den gedeckten Tisch und fragte: „Kann ich
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