Ein Jahr in Andalusien
verspüren müssten“,
sage ich und füge nach einer kurzen Denkpause an: „Aber die meisten Männer haben sich während der Franco-Jahre bestimmt in kleine Diktatoren
verwandelt. Schließlich war die Situation für sie mehr als bequem.“ „Und viele Frauen fanden sich mit der Unterdrückung ab und identifizierten sich mit
dem aufgezwungenem Selbstbild, um nicht völlig frustriert zu sein“, ergänzt Esther. „Die Männer und Söhne müssten die Frauen bei ihrer Befreiung aus
der Rolle der Hausfrau also eigentlich unterstützen“, sage ich mit Blick auf unseren Freund.
Sami ist unserer Diskussion schweigsam gefolgt. „Wollt ihr mir etwa ein schlechtes Gewissen einreden?“, fragt er. Esther – sie ist wieder ganz die,
die ich kenne – hat schon die passende Antwort parat: „Das Ende der festgefahrenen Rollenverteilung wäre doch auch für euch Männer ein
Riesenvorteil. Ihr seid in eurer emotionalen und persönlichen Entwicklung schließlich genauso eingeschränkt wie die Frauen.“ „Wie meinst du das denn?“,
fragt Sami etwas versöhnlicher. „Die Gesellschaft erwartet von euch, dass ihr immer stark seid, keine Gefühle zeigt, nicht weint und so weiter. Um
dieser Rolle gerecht zu werden, müsst ihr Männer einen Teil eurer Persönlichkeit leugnen“, erklärt Estherund bringt mich mit ihrer
Argumentation zum Nachdenken. „Genau das ist es“, sage ich. „Man muss den Männern klarmachen, dass sie mit mehr Gleichberechtigung nur gewinnen
können. Da sind dann aber auch wieder die Frauen gefragt.“ „Es gibt sogar einen Männerverein, der sich für mehr Gleichberechtigung einsetzt. Die
treffen sich jede Woche, um über ihre Gefühle und Probleme zu sprechen. Da kannst du ja mal vorbeischauen, Sami …“ Er lacht verlegen, sagt, er werde
mal nach den Tortillas schauen, und verschwindet im Inneren der Bar.
Meine Aufmerksamkeit hat der Verein aber gewonnen. Esther verspricht, mir die Nummer zu geben, damit ich mir die Männer mal ansehen kann. Da kommt Sami
schon mit einem Tablett voller Tortilla-Stückchen aus der Bar heraus, jedes mit einem Fähnchen und einer Nummer versehen. In der Hand hält er ein Blatt
mit einer Tabelle, auf der wir eine Note für jedes Stückchen eintragen müssen. „Beklagt euch nicht. Eigentlich wollt ihr doch auch Machos als Männer“,
sagt er, als er das Tablett vor uns auf den Tisch stellt. Esther und ich sehen uns an und verdrehen die Augen. „Und jetzt macht euch bereit: Meine
Tortilla wird euren Gaumen verzaubern. “
Januar
Über den Dächern von Málaga
Wie in meinem Gedankenspiel am Strand von Doñana stehe ich mit meinen beiden Rucksäcken vor der Haustür von Jaime. Ich zögere einen langen Moment,
bevor ich den Klingelknopf drücke. Während der Weihnachtsfeiertage habe ich Jaime noch einmal in Málaga besucht, und wir haben uns ausführlich über das
Zusammenziehen unterhalten. Nach dem Gespräch waren wir uns einig, dass wir es versuchen sollten. Doch als ich jetzt vor seinem Haus stehe, das bald
auch mein Zuhause sein soll, ist jede Sicherheit von mir gewichen. In Málaga kenne ich außer Jaime keine Menschenseele, bis auf zwei vage vereinbarte
Vorstellungsgespräche habe ich beruflich nichts in der Hand, und mein Freund ist eigentlich noch ein Unbekannter.
„Ich weiß doch nicht mal, ob du deine Wäsche selber wäschst!“, falle ich mit der Tür ins Haus. Jaime sieht mich mit großen Augen an. „Wer soll es denn
sonst machen?“, fragt er mich erstaunt. Ich bin beruhigt, immerhin scheint er seine Schmutzwäsche nicht wie Sami zur Mutter zu bringen. Und da im
Augenblick nicht die beste Gelegenheit zu sein scheint, das Thema tiefgreifender zu behandeln, nehme ich seine Einladung an, erst einmal einen heißen
Tee zu trinken. Denn auch bei ihm in der Wohnung ist es kühl – obwohl es in Málaga einige Grade wärmer ist als in Granada.
„Mira, schau, das Zimmer könnte doch dein Arbeitszimmer sein.“ Jaime hat Wasser aufgesetzt und mir dann zu verstehen gegeben, ihm zu folgen. Der
Ausblick aus demZimmer ist der beste in der ganzen Wohnung, ein rotbraunes Ziegelmeer erstreckt sich vor dem Fenster, in der Ferne
liegt der Turm der Kathedrale und die Festung Gibralfaro. Zugegeben, mit der Alhambra kann die maurische Festungsanlage von Málaga nicht mithalten, aber
schön ist sie dennoch. Jaime ist anscheinend daran gelegen, dass ich den grandiosen Ausblick von meinem Zimmer in Granada nicht vermisse. Ich bin
gerührt. Und während ich noch auf dem
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