Ein Jahr in Andalusien
Mutter liegt
faul auf dem Boden. „Doch die große Frage ist jetzt, ob die in Gefangenschaft aufgezogenen Tiere auch in Freiheit überleben können.“ Ich erfahre, dass
der Luchs nur noch in Doñana und im Gebirge Sierra Morena im Norden von Andalusien vorkommt. Dorthin will das Team von Vargas im Frühjahr einige
Jungtiere bringen. „Die Luchse sind sehr anspruchsvolle Tiere und passen sich nur sehr schlecht an die Lebensbedingungen in Gefangenschaft an. Ein
Weibchen braucht für die Aufzucht ihrer Jungen mehr alsdreihundert Hektar Jagdrevier. Kaninchen stellen ihre Hauptnahrungsquelle dar,
aber die werden in Andalusien immer seltener“, erzählt Vargas.
Die beiden jungen Luchse hinter dem mannshohen Gitter erinnern mich an Hauskatzen mit dickerem Fell. Vargas ist meinem Blick gefolgt. „Die Luchse sehen
harmlos aus, haben aber den Instinkt von Tigern“, sagt sie. „Die ersten drei Jungtiere, die wir hier aufgezogen haben, haben sich so lange
untereinander bekämpft, bis eines tot war.“ Vargas erzählt mir, dass sogar die Mütter manchmal den gesamten ersten Wurf töten. „Die Katzen scheinen
sich das Überleben noch schwerer machen wollen“, sagt sie und seufzt.
Dann erzählt sie mir, dass die Jungtiere in El Acebuche gerade für den Außeneinsatz trainiert werden. Dabei geht es vor allem darum, dass sie Straßen
als Gefahr erkennen. „Der größte natürliche Feind der Tiere sind wir Menschen. Es gibt heute in ganz Spanien kein dreihundert Hektar großes Gebiet mehr,
in dem keine Straßen verlaufen.“ Jedes Jahr will die Mannschaft vom Aufzuchtszentrum in Doñana jetzt zwischen zwölf und vierzehn Junge in die Freiheit
entlassen. „Wir müssen aber auch die Bevölkerung für die Gefahr sensibilisieren, denn viel zu oft fallen die Luchse noch Wilderern zum Opfer.“ Auch
wenn das Jagen im Nationalpark Coto de Doñana schon lange verboten ist, ziehen viele Anwohner nachts mit dem Gewehr los. Das Wildern ist der heimliche
andalusische Nationalsport. Bevor wir uns verabschieden, frage ich, ob ich bei der ersten Fahrt in die Freiheit der ersten Jungen dabei sein
kann. Vargas verspricht, sich bei mir zu melden, wenn es so weit ist.
Ich folge der schmalen, schnurgeraden Straße durch den Naturpark zum Strand auf der Suche nach den Zugvögeln, die gerade im Park Halt machen. Zuerst
führt sie mich durch einen dichten dunkelgrünen Pinienwald, danach vorbei an haushohen Dünen; dann stößt die Straße auf einengoldgelben Sandstrand, dahinter liegt der dunkelblaue Atlantik. Die Ruine eines alten maurischen Wachturms steht nicht weit entfernt, mit Blick auf den
Ozean. In einer Parkbucht lasse ich meinen Bus stehen. Mittlerweile ist es fast fünf Uhr abends, der Horizont verfärbt sich langsam orangerosa. Eine
frische Brise weht, die Kapuze meiner Windjacke ziehe ich tief in die Stirn. Hoch über mir fliegen die Zugvögel vorbei, und ich lasse meine Gedanken
schweifen. Plötzlich sehe ich mich mit gepacktem Koffer vor Jaimes Wohnungstür stehen. Heftig schüttele ich den Kopf, um mich wieder auf den Boden der
Tatsachen zu bringen. Wir haben uns doch erst vor zwei Monaten wiedergetroffen, sage ich mir. Aber dann gebe ich mich wieder meinem Gedankenspiel hin,
und es fühlt sich eigentlich ganz gut an. Jaime hat sich vor kurzem eine alte Dachwohnung in der Altstadt von Málaga gekauft. Bei seinem letzten Besuch
in Granada hat er mir ohne Umschweife angeboten, zu ihm zu ziehen. Entrüstet habe ich abgelehnt. Doch als ich jetzt in Ruhe über seinen Vorschlag
nachdenke, finde ich die Idee immer besser. Málaga ist für meine berufliche Zukunft ein strategisch besserer Ort als Granada. Die beiden Wochenzeitungen
haben dort ihren Sitz und mit ihnen die rund zehntausend deutschsprachigen Residenten. An der Costa del Sol werden viele Werbefilme gedreht, bei denen
ich als Produktionsassistentin arbeiten könnte. Außerdem finden wir viel schneller heraus, ob es zwischen uns wirklich klappt, wenn wir
zusammenleben. Noch sind meine Bedenken nicht ganz aus dem Weg geräumt, aber der Gedanke geht mir nicht mehr aus dem Kopf.
„Auf geht’s! Wir müssen zum Tortilla-Wettbewerb!“ Esther ist am Telefon ganz aus dem Häuschen, unsere Lieblingsbar an der Plaza Larga
gleich bei ihr um die Ecke hat zu einer alternativen Weihnachtsfeier geladen. Jeder Gast musseine selbstgemachte Tortilla mitbringen,
die alle kosten und bewerten sollen. Der Koch des besten Stücks bekommt ein Geschenk. Ich ziehe die Wollmütze tief ins
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