Ein Jahr in Andalusien
Fassung bringen.
„Rubia – Blonde!“, schreien sie mir schon aus hundert Meter Entfernung entgegen. Sie scheinen farbenblind zu sein, denn ich bin nicht blond, meine
Haare sind vielmehr kastanienbraun. Doch alles, was nicht schwarzhaarig ist, nennen die andalusischen Bauarbeiter blond; sie vergessen ihre Werkzeuge
und glotzen hinterher, bis der vermeintliche Blondschopf aus dem Blickfeld verschwunden ist. Selbst hinter blickdichten Bauzäunen raunzt es immer wieder
„Rubia“, wenn ich unbedarft vorbeispaziere. Nachdem ich das erste Mal mit diesen zweifelhaften Komplimenten überschüttet worden war, überlegte ich mir
ein paar Sprüche, „Guapos – Hübsche!“ wollte ich flapsig kontern oder kratzbürstig „Feos – Hässliche!“. Aber sobald die Rubia-Rufe ertönen, ist mein
Gehirn wie leergefegt. Um jede Baustelle versuche ich mittlerweile einen großen Bogen zu machen.
Auch deshalb sehne ich die Ankunft meiner Mutter herbei, mit der ich ein paar Tage zum Wandern fahren will, weitweg von allen
Baustellen. Außerdem freue ich mich sehr, endlich jemanden aus meiner deutschen Heimat in Andalusien begrüßen zu können. Für unseren Ausflug habe ich
den Naturpark Sierra Aracena gewählt, der in der Sierra Morena im Nordwesten von Andalusien liegt. Die Berge sind dort zwar flach, Klettersteige sucht
man vergeblich, aber dafür ist man ganz ungestört, das Wandergebiet ist unbekannt und die Landschaft wunderschön. Kilometerweit erstrecken sich
Korkeichenwälder, in denen die Iberischen Schwarzfußschweine weiden, in den kleinen Ortschaften bekommt man den köstlichsten Pata-Negra-Schinken von
ganz Spanien serviert und die andalusischen Kampfstiere toben sie sich hier aus, bevor sie zum letzten Kampf in die Arena geschickt werden.
„Mama, das ist Jaime.“ Direkt vom Flughafen bin ich mit meiner Mutter in ein spanisches Restaurant in Málaga gefahren, wo Jaime schon
auf uns wartet. Mein Freund hatte darauf bestanden, uns zum Essen einzuladen, bevor wir in Richtung Berge aufbrechen. Seine Locken fallen bis weit über
die Schultern, sein Gesicht ist auch jetzt im Winter sonnengebräunt. Meine Mutter raunzt mir zu: „Da hast du dir aber einen echten Don Juan geangelt.
“ Jaime springt auf, als er uns sieht, begrüßt meine Mutter mit zwei Küsschen, eins auf jede Wange, und rückt ihren Stuhl zurecht. Kaum sitzen wir am
Tisch, beginnen die beiden eine angeregte Unterhaltung – über mich. Die beiden tauschen zwar manchmal ein paar Sätze auf Englisch aus, aber für die
meisten Dinge muss ich als Übersetzerin herhalten – und die beiden haben sich eine Menge zu erzählen. Mein Teller bleibt fast unangetastet. Beim Flan,
eine Art spanischer Eierpudding, sagt meine Mutter ganz zufrieden zu mir: „Da weiß ich, dass du in guten Händen bist.“ Ich grinse nur und beschließe,
meinen Job als Übersetzerin für heute an denNagel zu hängen. Jaime blickt mich zwar erwartungsvoll an, auch dieses Detail der
Unterhaltung will er nicht verpassen. Doch ich widme meine Aufmerksamkeit jetzt ganz dem Pudding.
Eine halbe Stunde später sitzen meine Mutter und ich schon in meinem VW-Bus und fahren in Richtung Sevilla. Jaime habe ich gerade noch davon überzeugen
können, dass ich keine Siesta brauche, bevor ich die Fahrt auf mich nehme. Er war drauf und dran gewesen, mir den Mittagsschlaf zu verordnen. „Jaime ist
wirklich sehr sympathisch, und man merkt richtig, wie sehr er dich mag“, schwärmt meine Mutter noch, als wir schon im Verkehrschaos der andalusischen
Hauptstadt versinken. Und als das Gebirge Sierra Aracena jetzt vor uns auftaucht, sagt sie begeistert: „Ich kann gut nachvollziehen, dass es dich
hierher zieht.“
Der Himmel ist strahlend blau, die Sonne wärmt auch jetzt am späten Februarnachmittag noch so sehr wie in Deutschland im Hochsommer. Wie kalt es werden
kann, sobald die Nacht hereinbricht und die Zentralheizung fehlt, verschweige ich meiner Mutter mutwillig. Unser erstes Etappenziel heißt Fuenteheridos,
ein kleines Dorf, etwas abseits der Nationalstraße, die quer durch das Gebirge in Richtung Portugal führt. Auf Reiseführer und Reservierung habe ich
verzichtet, nur einen Wanderführer habe ich im Gepäck. Deshalb steuern wir auf eine Bar am Dorfplatz zu, um uns über die Unterkünfte vor Ort zu
informieren. Ich bestelle zwei Gläser frisch gepressten Orangensaft. „¿Hay un hostal en el pueblo? – Gibt es eine Pension im Ort?“, frage ich den
Wirt, einen rundlichen, kleinen Mann, als
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