Ein Jahr in Australien
und dort eine rastende Möwenfamilie auf. Nach dem Trubel der heißen Sommermonate breitete sich in Bondi eine entspannte Gelassenheit aus. Selbst die Flotte der Reisebusse, deren Fahrer ihre Passagiere für das Bondi-Pflichtfoto an der Campbell Parade absetzten, wurde kleiner. Ich gewöhnte mir an, meine Arbeit um die Mittagszeit für eine etwas ausgiebigere Pause zu unterbrechen. Natürlich ausschließlich, um das kostbare Tageslicht besser auskosten zu können. In den Cafés, wo wir sonst unter Schirmen oder Bäumen den Schatten gesucht hatten, tat es jetzt gut, die Sonne auf der Haut zu spüren. Vor dem „Gusto“ und sogar im populären „Speedos“, das jeder Reiseführer empfahl, saßen plötzlich lauter „locals“. Gesichter, die ich mittlerweile vom Sehen kannte, grüßten mich lässig nickend. Wer immer noch da war, der gehörte wohl hierher. „Winter in Bondi“, dozierte Rob, der selbst zum Zeitungholen am liebsten den Jeepnahm, „bedeutet, dass du sogar vor der Post in der Hall Street einen Parkplatz findest.“ Die Linienbusse, die ich nach wie vor für Fahrten in die Innenstadt dem Express vorzog, waren leerer und schneller. Nicht einmal an sonnigen Samstagen gab es Staus Richtung Strand. Mir kam alles normaler und weniger aufgeregt vor als noch vor drei Monaten. Ich hatte ohnehin nie etwas gegen den Wechsel der Jahreszeiten gehabt; das heißt: solange der nicht mit monatelang währendem Dauerregen verbunden war. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte das Nahen des Winters weder etwas Deprimierendes noch etwas Bedrohliches.
Selbst das Nachtleben in meinem Strandvorort wurde interessanter. Wenigstens für mich. Das Beach Road Hotel, eine der beiden großen Kneipen, hatte ich in der Hochsaison weitgehend gemieden. Das hatte vor allem zwei Gründe, einer für jede Etage. Im Erdgeschoss des „Beach Road“ hingen so viele Fernsehschirme, dass ich mir vorkam wie im Monitor-Kontrollraum eines Privatsenders. Über den Bars, in den Ecken, auf großen und kleinen Leinwänden flimmerten zeitgleich Übertragungen von Cricket, Rugby, Golf, Tennis sowie Pferde- und Hunderennen. Für weibliche Gäste ohne Begleitung war diese Zone der Kneipe offenbar ohnehin nicht geeignet. Alleine als Frau, das hatte mir Christine beigebracht, hielt man sich in derart australischen Epizentren einfach besser nicht auf. Auch nicht als Europäerin, schob sie vorsichtshalber nach. Es sei denn, ich wolle sehr schnell sehr viel Bier trinken und anschließend einen der umstehenden sportbegeisterten Herren, die ebenfalls sehr viel Bier getrunken hatten, nach Hause begleiten.
Das Obergeschoss des „Beach Road“ hatte ich aus einem anderen Grund bisher gemieden. Zwar fehlten oben die Bildschirme, doch dafür tobten dort die Massen. Vor der Treppe zur ersten Etage standen während des Sommers dieVergnügungswilligen in Pulks, die vermuten ließen, dies sei die allerletzte Party vor dem Ernst des Lebens. Diese Gäste waren überwiegend so jung, dass neben den normalen Türstehern von den Pazifik-Inseln zwei zusätzliche Muskelmänner in den Pässen der Gäste nach Zeichen der Volljährigkeit suchten. Und aus dem Alter, in dem man für den Besuch einer Trinkanstalt Schlange stand, war ich einfach raus. Jetzt im Juni aber fanden da oben gratis Konzerte statt, die noch im Februar ausverkauft oder grenzenlos überfüllt gewesen wären. Hiphop-Kultbands aus Neuseeland spielten für Mini-Eintrittspreise, hiesige Gitarrengrößen, Trommler aus Samoa und Discjockeys aus London für umsonst. An der Theke sah ich Cameron, meinen Lieblingsbarista. Daneben der so entzückend schüchtern und exotisch aussehende Typ aus der Surfschule, und es war selbst als alleinreisende Dame völlig in Ordnung, für ein paar Stündchen im Takt mitzuwippen.
Das traf sich gut, denn zu Hause pfiff der Wind durch die Ritzen zwischen Rahmen und Fenster, und kam ein Wetter von Westen, blies der Sturm die Kerzen auf der Fensterbank aus. Selbst wenn die Luken dicht waren. Tagsüber wärmte die niedrig stehende Sonne die Wohnung wunderbar auf, aber abends und an bedeckten Tagen wurde es kalt. „Ihr habt doch da unten gar keinen richtigen Winter!“, erfuhr ich aus gut unterrichteten Kreisen von der Nordhalbkugel. Nein, sicher, wenn „richtig“ bedeutete: Schnee und Eis und minus drei Grad, gefolgt von Straßenglätte und Hagelschauern, dann war das hier natürlich ein falscher Winter. In den für Sydneys Sommerklima errichteten Häusern fühlte sich die Jahreszeit
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