Ein Jahr in Australien
Angriff eines Hais in Bondi lag über 60 Jahre zurück. Die Kerle ernährten sich eben lieber von Fisch, als auf in schwarzes Gummizeug verpackten Surfern rumzukauen. Seit 1791 – damals fingen die Neu-Australier an, derartige Ereignisse zu protokollieren – gab es in ganz Australien 139 Hai-Begegnungen mit tödlichem Ausgang, weniger als zwei pro Jahr, und das an über 25 000 Kilometern Küste. Das Risiko, von einem durstigen Biertrinker überfahren zu werden, war eindeutig größer, als einem hungrigen Tigerhai zwischen die Zähne zu geraten. In Bondi sicherten Unterwassernetze die Badenden zusätzlich ab. Eben für den Fall des unwahrscheinlichen Falles.
Meine Ausflüge ins Wasser bei Sonnenuntergang jagten Chris trotzdem Schauer über den Rücken: „Oh my God! Ihr Europäer seid verrückt!“, rief sie ins Telefon, als ich ihr eines Abends aufgeregt erzählte, ich käme gerade vom Surfen und es sei besonders romantisch gewesen. Wie eine dicke, runde Orange war hinter mir im Meer der Mond aufgegangen. „Nicht zu fassen, wirklich!“, ereiferte sich Christine. Mein Hinweis, ich sei mit Sicherheit die einzige Europäerin zwischen lauter echten „Aussie mates“ in den Wellen gewesen, beruhigte sie nicht im Geringsten. Ich musste ihr versprechen, im Winter künftig früher aus dem Wasser zu kommen.
Beim Versuch, die Tageslichtphasen so weit eben möglich auszunutzen, stellte ich meinen Wecker auf Sonnenaufgang: kurz vor sieben. Wenn ich das in Hamburg jemandem erzählte – was dank der Zeitverschiebung tatsächlich hin undwieder zu dieser Uhrzeit passierte –, konnte ich am anderen Ende der Leitung das ungläubige Hochziehen der Augenbrauen förmlich hören. „ Du bist um halb acht auf …? Alles in Ordnung da unten?“ Mir hing der Ruf nach, auf Gesprächsangebote vor zehn Uhr morgens, insbesondere per Telefon, eher ungehalten zu reagieren. Ausnahmen galten für Freunde in Not und jeweilige Liebhaber, falls sie einen triftigen Grund hatten. Dass ich um halb acht entspannt im Milchkaffee rührend mit Familie und Freunden in der Ferne plauderte, hielten die für schier unglaublich. Aber ich begann, diese klaren, rosigen Morgen richtig zu mögen. Die Sonnenaufgänge am Wasser waren um die Jahreszeit unschlagbar kitschig. Das Meer leuchtete oft in einer glänzenden Farbe, die man auch ohne romantische Ader „golden“ nennen musste. Die Luft in der Bucht war so klar, als sei über Nacht jedes Staubkorn einzeln abgesaugt worden.
Frisch war es allerdings im Juni zu dieser Uhrzeit auch. Die Jogger am Strand trugen Wollmützen, die sie beanies nannten, die Yoga-Schüler im Park zogen sich für ihre Morgengruß-Positionen Sweatshirts über die schulterfreien Hemden. Wer vor der Arbeit surfte, kam in knöchellangem Neopren und behielt mit gutem Grund bis ans Wasser seine Flip Flops an, die in Australien Thongs hießen. Als ich eines Morgens beschloss, dass ich mich – Christine zuliebe – mal der Gruppe der tapferen Frühsurfer anschließen könnte, traf mich fast der Schlag: Der im Schatten liegende Sand fühlte sich unter meinen nackten Sohlen an wie Schnee. Unglaublich. Das Wasser kam mir dagegen richtig warm vor. Solange der Wind nicht zu stark in die nassen Haare blies, war es gut auszuhalten.
Je länger er währte, umso mehr gewöhnte ich mich an ihn. Genau genommen hatte der Winter im Vergleich zum Sommer eine Menge Vorteile. Nicht nur, weil „wir Einheimischen“ unsere geliebten Wellen mit weniger Zugereistenteilen mussten. Die Atmosphäre war einfach anders, familiärer. Der Stadtteil hatte sich schrittweise, aber spürbar geleert. Um am Strand zu liegen war es inzwischen meist zu kühl. Die Saison der rotgelb uniformierten Rettungsschwimmer war vorbei. Weniger Touristen irrten mit Stadtplänen in der Hand durch die Straßen oder suchten nach dem „Coastal Walk“. Vögel schienen Sydney nicht Richtung Norden verlassen zu haben, wohl aber die Mehrzahl der Backpacker: In alten Kombis, per Bus und per Billigflieger zogen sie davon, hoch nach Byron Bay, Airlie Beach oder weiter bis Cairns und zum Great Barrier Reef, wo es auch jetzt warm und schwül blieb.
Mir gefiel die Winterstimmung in Bondi. Ich mochte den etwas verlassenen und saubereren Strand, auch wenn sich die Sandkörner über Nacht in Schneeflocken zu verwandeln schienen. Lief ich mit dem Surfbrett zum Meer, brauchte ich keine Slalomläufe durch die Handtuch-Kolonien der Sonnenbadenden mehr zu veranstalten. Schlimmstenfalls scheuchte ich da
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