Ein Jahr in Australien
normalen Prüfungsstress noch ein bisschen gruppendynamische Anspannung. Steve nickte unseren Ausbildern zu, machte sich Notizen und sah auf die Uhr. Es ging los.
Wir verteilten uns am Strand, hielten die Augen offen und spitzten die Ohren. In den nächsten zwei Stunden verhinderten wir ein Massen-Ertrinken auf einer kollabierenden Sandbank, riefen Krankenwagen für einen Herrn mit ungeklärtem Brustschmerz, zogen einen epileptischen Surfer an Land, beruhigten Eltern verlorener Kinder, kühlten Quallenstiche, fanden Kinder wieder, schickten betrunkene Randalierer in den Schatten, funkten IRBs her, wiederbelebten einen bewusstlosen Teenager, warnten Touristen vor Strömungen und fixierten eine ausgekugelte Schulter. Es war schlicht grandios. So viel, flüstere ich Karen auf unserem Spähposten am Ufer zu, würde im wirklichen Leben ja hoffentlich kaum je an einem ganzen Wochenende los sein. Sie rollte unter ihrer Lifesaver-Kappe mit den blauen Augen. Es war eine von bisher drei ruhigen Minuten, in denen seltsamerweise nichts„passierte“ und wir befürchteten, vermutlich gerade irgendeinen Nebenkonflikt zu versäumen. Auch wenn keiner unserer Fälle echt war: Sie alle zu entdecken, zu kapieren und zu klären, war anstrengend. Sam, der im Alltagsleben Programmierer war, raunte: „Dieses Szenarien-Spektakel ist ja total irre. Daraus mach ich ein Computerspiel.“ Dann hörten wir einen schrillen Pfiff und drehten synchron unsere heißen Köpfe. Entwarnung. Der dicke Steve wedelte mit seinem Ordner, das Zeichen, dass die Krisen fürs erste überstanden waren.
Auf dem nachmittäglichen Belohnungsbarbecue im Innenhof des Surfclubs lernte ich noch eine Reihe anderer Sachen. Dazu gehörte, dass es möglich war, nach drei Light-Bieren betrunken zu sein. Das glorreiche Team hatte sich bei „Jenny’s“, einem von Brontes lässigen Strandcafés, bei Kaffee, Muffins und Bananenbroten von den Strapazen erholt. Dabei hatten wir uns immer wieder gegenseitig zu unserer neuen Funktion gratuliert: „Hello Lifesaver“, zog mich Christine auf, rief ihren Herrgott an und sagte, sie könne es immer noch nicht fassen. Das ging mir ähnlich. Im Clubhaus in North Bondi gab es anschließend für die erfolgreichen Kandidaten sowie ihre Ausbilder Würstchen, Salat und Lob. Cheftrainer John schüttelte jedem die Hand und überreichte uns rote Kappen, auf denen vorne „North Bondi“ und hinten das Vereinsmotto stand: „Ready Aye Ready“. Logisch, jederzeit. Ab Dezember würden wir zu Patrouillen eingeteilt. Dann würden wir etwa alle drei Wochen je fünf Stunden gemeinsam mit erfahreneren Lifesavern unsere neuen Fertigkeiten am Strand beweisen dürfen. Im Übrigen sei er stolz auf uns alle und heiße uns herzlich willkommen im Club. Alles klatschte. Wann immer wir ein Problem hätten, sollten wir uns gern an ihn wenden, Chris nickte besonders eifrig. Unsere bronzenen Medaillen würden wir später bekommen, aber der Zapfhahn hinter der Bar stehe schon jetzt zuunserer freien Verfügung. Dann grinste er noch breiter. John wusste, dass wir bei dreißig Grad nach run-swim-runs und Stunden des Krisenmanagements keine allzu großen Löcher in die Vereinskasse würden trinken können.
Dezember
„Noch kein Jahr hier und schon ein ,clubbie‘! Ausgerechnet“, feixte Sebastian, als ich ihn nach Monaten mal wieder um Hilfe bat. Ein „clubbie“, erfuhr ich, war das australische Pendant zum Vereinsmeier. Dann gratulierte er mir noch immer amüsiert zur neuen Karriere und fragte, womit er der freiwilligen Feuerwehr vom Strand denn aus der Patsche helfen könne. Das Problem war: Auch am anderen Ende der Welt gehörte zu einem echten Verein, wie Seb richtig angedeutet hatte, die Meierei. Und zwar in Form von Formularen. Ich musste einen langen Fragebogen ausfüllen, in dem ich unter anderem Auskunft über Vorstrafen, kriminelle Zukunftspläne und ansteckende Krankheiten gab. Dazu sollte ich „im Notfall zu verständigende Verwandte“ nennen. In Deutschland, dachte ich, sollten die besser nicht anrufen, wenn mich ein heroischer Einsatz ins Koma versetzt hätte. Jenny und Paul konnte ich nicht fragen, weil sie verreist waren, also notierte ich Sebastians Nummer und nannte ihn „lokale Kontaktperson“. Er hatte seine Freude: „Bist du sicher, dass du die Sache mit der Integration nicht ein bisschen zu ernst nimmst?“, zog er mich auf. Ja, absolut. Ganz nebenbei hatte ich in den acht Wochen Training mehr nette Australier kennen gelernt als in
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