Ein Jahr in San Francisco
elektrisiert, wenn ich vor mir eines der sieben Weltwunder der Moderne erblicke.
„Durch den Gezeitenwechsel werden viermal täglich reißende Wassermengen durch die Meerenge gepresst, die einen Brückenbau lange unmöglich machten“, erklärt Sophia und zeigt auf die Bucht. Joseph B. Strauss schaffte jedoch das Undenkbare: Nachdem der Ingenieur jahrelang für die Bewilligung seines Brückenbaus kämpfen musste, durfte er 1933 endlich mit den Bauarbeiten beginnen. Nach vier Jahren war er fertig. „Doch San Francisco hat es mal wieder geschafft. Voilà!“ Stolz strahlt mich Sophia an.
„Stimmt es, dass man mit den einzelnen Stahlkabeln die Welt dreimal umspannen könnte?“ – „Ja, die Kabel hätten aneinander gelegt eine Länge von knapp 130 000 Kilometern. Mein Exfreund war Ingenieur und hat mir davon erzählt.“ Sie setzt eine vielversprechende Miene auf. „Aber der ist schon wieder out, und die Brücke hat leider auch ihre Schattenseiten, denn sie ist der weltweit populärste Ort für Selbstmorde.“ Sie zeigt an den unteren Rand des Baus: „Nun gibt es Überlegungen, ein Netz anzufertigen, das diejenigen, die die Flucht aus ihren irdischen Problemen suchen,auffangen soll. Aber das würde zwischen vierzig und fünfzig Millionen Dollar kosten. Ziemlich teuer! Na ja, derzeit ist die Brücke zumindest nachts für Fußgänger gesperrt.“
„There we go“, sagt Sophia wenig später und drückt die Klingel mit der Aufschrift „Smith“ des weiß gestrichenen Mehrfamilienhauses am Felsvorsprung des Telegraph Hill . „Die Wohnung soll super sein. Nur Charles ist ein bisschen gewöhnungsbedürftig“, bereitet mich Sophia vor. Was das nun wieder heißen soll? „Ach, du wirst ihn mögen. Er ist cool“, ergänzt sie schnell. Sie klingelt ein zweites Mal. Im Hausinneren tut sich nichts. Weder auf Sophias Anrufe auf seinem Mobiltelefon noch auf unser ungeduldiges Klingeln reagiert Charles. „Eigentlich ist er zuverlässig – keine Ahnung, was los ist.“ Nach zehn Minuten entschließen wir uns zu gehen. „Es hat doch keinen Sinn“, sage ich und kann die Ernüchterung in meiner Stimme nicht verbergen. Sophia legt den Arm um mich. „Der meldet sich sicherlich gleich.“
Als wir die Lombard Street gerade wieder heruntergehen, kommt auf einmal ein schwarzer, tiefer gelegter Mini mit quietschenden Reifen und verspiegelten Scheiben auf uns zugerast. „What a SCUM“, entfährt es mir, was so viel heißt wie „Was für ein Angeber!“ und was die Amerikaner mit SCUM (self-centered urban man) abkürzen. Doch in diesem Moment kommt der Fahrer neben uns zum Stehen und kurbelt das Beifahrerfenster herunter. „Sorry, es tut mir leid, Mädels“, sagt er und nimmt die Sonnenbrille von der Nase. Dann streckt er seine Hand aus dem Auto, um uns zu begrüßen. Lass diesen Typen jetzt bitte nicht Charles sein, bete ich. „Ich bin Charles. Hanni? Nice to meet you.“ Charles trägt einen edlen Nadelstreifenanzug und sieht abgehetzt aus. Das Jackett hat er achtlos neben einen Weinkarton auf den Beifahrersitz geworfen. Sein Haar ist an den Schläfen graumeliert. Ich schätze ihn auf Mitte dreißig. Erschüttelt Sophia und mir kräftig die Hand und entschuldigt sich überschwänglich für die Verspätung. Bevor er weiterspricht, schaut er uns verlegen an. „Ich würde euch super gerne die Wohnung zeigen – allerdings gibt es ein Problem. Ich hab mich selbst aus meiner Bude ausgesperrt. Ich habe vorhin die Wohnung so eilig verlassen und den Schlüssel drinnen vergessen. Der Schlüsseldienst braucht noch mindestens zwei Stunden.“ Er fährt sich mit der Hand durch die Haare und überlegt. „Aber ich kann euch gerne vom Dach aus den Grundriss der Wohnung zeigen, denn oben kommen wir auch ohne Schlüssel hin. Dazu gibt’s dann einen guten Rotwein als Entschädigung. Später zeige ich euch die Wohnung. Deal?“ Hochstapler, denke ich mir. Doch Sophia schaut mich eindringlich an. „Charles, that sounds great“, antwortet sie freudestrahlend.
Sophia hatte mir zuvor erzählt, dass er Weinhändler und Sommelier ist. So kommen wir in den Genuss eines Qualitätsweins aus dem Jahre 1998, den Charles auf dem Dach seines Hauses extra für uns entkorkt. Dabei können wir die gesamte Bucht überschauen, und neben uns ragt der grauweiße Aussichtsturm, der Coit Tower, in die Höhe, der auf der Spitze des Telegraph Hill prangt wie die Zigarillo-Waffel in einer Kugel Eis. Das Säulenmonument wurde zu Ehren der Brandwache von San
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