Ein kalter Mord - McCullough, C: Ein kalter Mord
Francine Murray«, sagte Mr Daiman zu Carmine. »Sie hätte in dem Bus dort drüben sein sollen, aber sie tauchte nicht auf. Sie war in ihrer letzten Unterrichtsstunde anwesend und hat offenbar das Gebäude mit einer Gruppe von Freunden verlassen. Sie zerstreuen sich, sofern sie erst einmal im Hof sind, abhängig davon, ob sie mit dem Bus fahren oder zu Fuß nach Hause gehen – Lieutenant Delmonico, das ist furchtbar!«
»Jetzt aufgebracht zu sein hilft weder Ihrer Schülerin nochuns, Mr Daiman«, sagte Carmine. »Am wichtigsten ist: Wie sieht Francine aus?«
»Wie die verschwundenen Mädchen«, sagte Daiman. »Wunderhübsch und sehr beliebt! Nur beste Noten, nie irgendwelcher Ärger, ein großes Vorbild für die anderen Schüler.«
»Ist sie karibischer Herkunft, Sir?«
»Soweit ich weiß, nicht, nein«, antwortete der Direktor und wischte sich Tränen aus den Augen. »Ich denke, deswegen haben wir es nicht bemerkt – in den Nachrichten hieß es, alle Mädchen seien teils hispanoamerikanischer Herkunft, aber das ist sie nicht. Sie kommt aus einer dieser wirklich alten schwarzen Familien Connecticuts und aus einer Mischehe. Oh, lieber Gott, was soll ich jetzt nur tun?«
»Mr Daiman, versuchen Sie mir vielleicht zu sagen, dass ein Elternteil von Francine schwarz ist und der andere weiß?«, fragte Carmine.
»Ich glaube schon, ja.«
Abe und Corey waren bei den uniformierten Polizisten, Carmine sagte ihnen, sie sollten jeden Bus gründlich durchsuchen und dann wegschicken, aber die Gruppe von Francines Freunden zurückhalten, damit sie befragt werden könnten.
»Sind Sie sicher, dass sie nicht noch irgendwo in der Schule ist?«, fragte Carmine Sergeant O’Brien, als der seine Leute und die begleitenden Lehrer aus dem riesigen Gebäude führte.
»Lieutenant, ich schwöre, Francine ist nirgendwo. Wir haben jeden Schrank geöffnet, unter jeden Tisch geguckt, in jeden Toilettenraum, die Cafeteria, die Klassenzimmer, den Versammlungsraum, die Lagerräume, den Heizungskeller, die Dachböden, die Labors, das Zimmer des Hausmeisters – in jeden verdammten Raum«, sagte O’Brien.
»Wer hat das Mädchen als Letztes gesehen?«, fragte Carmine die Lehrer, die unter Schock standen und zitterten.
»Sie ging mit ihren Freunden aus meinem Klassenzimmer«, sagte Miss Corwyn aus der Chemie. »Ich blieb noch, um aufzuräumen, und bin ihnen nicht gefolgt. Ach, hätte ich es doch getan!«
»Machen Sie sich keinen Vorwurf, Ma’am. Das konnten Sie doch nicht wissen«, meinte Carmine und wandte sich an die anderen. »Hat sie noch jemand gesehen?«
Nein, das hatte niemand. Und niemand hatte irgendwelche Fremden gesehen.
Er hat es schon wieder getan, dachte Carmine, und ging zu dem verstörten Haufen junger Leute, die behauptet hatten, mit Francine Murray befreundet zu sein. Der Täter hat sie sich geschnappt, ohne dass auch nur eine Seele ihn gesehen hatte. Es ist 62 Tage her, seit Mercedes Alvarez verschwunden ist, wir waren bereit, haben die Leute gewarnt, haben Fotos gezeigt, auf welche Art von Mädchen der Täter es abgesehen hat, haben die Sicherheit an den Schulen verschärft. Und was macht er? Er lullt uns in die Sicherheit, die karibische Herkunft sei ein wichtiger Teil seiner Besessenheit, und wechselt dann zu einer anderen ethnischen Gruppe. Und ausgerechnet Travis! Ein Ameisenhaufen! 1500 Schüler! Die halbe Stadt denkt, Travis sei ein Ort voller Ganoven, Rabauken und Abschaum, und vergisst dabei, dass es auch ein Ort ist, wo eine Menge anständiger Kinder, schwarze wie weiße, eine ziemlich gute Erziehung genießen.
Francines beste Freundin war ein schwarzes Mädchen namens Kimmy Wilson.
»Francine war bei uns, als wir aus dem Chemieunterricht kamen«, sagte Kimmy schluchzend.
»Wart ihr alle bei Chemie?«
»Ja, Sir.«
»Erzähl weiter, Kimmy.«
»Ich dachte, sie wäre auf die Toilette gegangen. Francine hateine schwache Blase, darum geht sie ständig auf die Toilette. Ich habe mir nichts dabei gedacht, weil ich sie ja kenne.« Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ach, warum bin ich bloß nicht mitgegangen?«
»Fahrt ihr zusammen im selben Bus, Kimmy?«
»Ja, Sir.« Kimmy strengte sich sehr an, ihre Gefühle im Griff zu behalten. »Wir wohnen beide in Whitney, draußen im Valley.« Sie zeigte auf zwei weinende Mädchen. »Genauso wie Charlene und Roxanne. Niemand von uns hatte an sie gedacht, bis die Busfahrerin die Namen ausrief und sie nicht geantwortet hat.«
»Kennst du deine
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