Ein Kelch voll Wind
Geschmack stieg mir in der Kehle auf. Du hast echt ein gutes Händchen. Ich atmete tief ein und aus. »I ch werde mich darum kümmern«, sagte ich ruhig. »I ch werde zur Schule gehen und mich selbst anmelden. Ich werde dich wissen lassen, was passiert ist.«
Axelle sah aus, als würde sie nach einem geeigneten Gegenargument suchen, aber keins finden. »N a ja, wenn es das ist, was du willst…«, sagte sie widerstrebend.
»J a«, sagte ich fest. »U nd mach dir darüber keine Sorgen.«
»O kay.« Sie seufzte schwer, als könne sie nicht glauben, dass Michel Allards Kind so schrecklich unvernünftig war. Ich nahm die Zeitung und ging zurück in mein Zimmer, wo ich vorsichtig die Tür schloss. Dann legte ich mich auf mein Bett, legte ein Kissen über mein Gesicht und heulte.
Kapitel 6
So viel hat sich verändert
»C ’est impossible«, murmelte Daedalus erbost und haute mit der Faust auf die Motorhaube. »C ’est impossible!«
»H ey!«, rief Axelle. »L a voiture, c’est à moi!« Vorsichtig untersuchte sie ihren pinken Cadillac auf Dellen.
Das hier war unglaublich. Daedalus verschränkte die Arme vor der Brust und gesellte sich zu Richard und Jules, die seitlich am Wagen lehnten und auf die andere Seite der Straße starrten. Axelle zündete sich eine neue Zigarette an. Richard streckte die Hand aus. Sein Armband aus Alligatorenzähnen schimmerte schwach in dem dämmrigen Licht. Axelle schüttelte eine Zigarette aus der Schachtel und er steckte sie sich an ihrer an.
Jules verzog das Gesicht. »M üsst ihr sogar hier rauchen?«
»J a«, erwiderte sie gelassen. »W illst du mir jetzt einen Vortrag über die Gesundheitsrisiken halten?«
Richard kicherte und Jules wandte den Blick ab.
»E s ist einfach nur unangenehm, das ist alles«, sagte er.
»D ann stell dich in die Windrichtung«, sagte Axelle.
»H ört auf, ihr beide«, unterbrach Daedalus. »N atürlich sind wir alle verärgert und enttäuscht. Aber wir dürfen nun nicht auch noch anfangen, untereinander zu streiten. Wir müssen zusammenhalten, und zwar jetzt mehr denn je.«
»I st Sophie schon da?«, fragte Axelle.
»I ch glaube, sie und Manon kommen morgen«, sagte Daedalus. Er atmete aus und guckte immer noch ungläubig über die Straße. »U nd das hier ist wirklich der Ort?«, fragte er zum fünften Mal.
»J a, das ist der Ort«, antwortete Jules entmutigt. »D as muss er sein.«
Die vier standen in einer Reihe gegen das Auto gelehnt.
Auf der anderen Seite der Straße, wo sie Wälder und Sümpfe erwartet hatten, so weit das Auge reichte, stand ein gigantisches Wal-Mart-Supercenter. Und ein riesiger Parkplatz sowie andere, daneben aufgereihte Geschäfte.
»W ann war das letzte Mal jemand von euch hier?«, fragte Daedalus.
Sie dachten nach und zuckten die Schultern.
»D as ist lange her«, sagte Axelle schließlich. »W ie man sieht.«
»W artet mal.« Richard beugte sich durch das geöffnete Wagenfenster und zog eine alte Landkarte hervor. Dann griff er nach Daedalus’ aktuellerer Karte und breitete sie beide nebeneinander auf der Motorhaube aus. »O kay, hier ist New Orleans«, sagte er und deutete auf die Stadt in der sichelförmigen Biegung des Flusses. »U nd ungefähr hier sind wir.« Sein schlanker Finger folgte einer blauen Highway-Linie, südsüdwestlich von New Orleans.
»D as sind zwei völlig unterschiedliche Karten«, sagte Axelle.
Daedalus begriff, was sie meinte. »A uf welches Jahr ist die erste Karte datiert?«
»Ä h, 1843«, sagte Richard, nachdem er das Datum in der Ecke gefunden hatte.
»U nd dies hier ist die aktuelle Karte«, stellte Daedalus klar. »G anz offensichtlich ist die erste vollkommen fehlerhaft. Die Topografie basiert nicht auf Satellitendaten. Nicht mal die Namen sind auf den beiden Versionen identisch. Schaut hier, ›Lac Mechant‹ wird zu ›Lac Penchant‹. Dieser hier heißt ›Grand Barataria‹ und jetzt nennt er sich, äh, ›Lake Salvador‹. Glaube ich.« Er schaute auf die beiden Karten, dann blickte er nach oben und sah, dass das für den Nachmittag angekündigte Gewitter aufzog.
»S cheiße«, sagte Axelle.
»A ber das ist die Karte, die wir immer benutzt haben«, sagte Jules.
»J a, aber das ist auch schon eine ganze Weile her«, erwiderte Richard. »S ogar der Lauf der Flüsse ist inzwischen anders. Mit jedem Hurrikan, der über Louisiana hinweggefegt ist, hat sich ein Teil der Landschaft verändert.«
»U nd was jetzt?«, fragte Jules. Frustration sprach aus seiner Stimme.
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