Ein Kelch voll Wind
bis zu den Augen vordrang.
»A h! Thais!«, rief Daedalus und blickte von einem dicken Buch auf. Jules sah ebenfalls auf und lächelte, dann wandte er sich wieder seiner Landkarte zu, die auf einem kleinen Esstisch auf der einen Seite des riesigen Wohnzimmers lag. Auf der anderen Seite gab es einen Kamin und eine Sofaecke. Die kleine, offene Wohnküche wurde nur durch eine schwarze Granittheke von dem Raum abgetrennt. Axelles Schlafzimmer und ihr gigantischer, pathologisch vollgestopfter, unordentlicher begehbarer Kleiderschrank befanden sich am Ende eines kurzen Flurs. Über die Küche kam man in mein winziges Schlafzimmer, einen ehemaligen Schuppen, den man quasi an das Gebäude rangetackert hatte.
»H i!«, sagte ich und wollte mich sogleich in meine Privatsphäre zurückziehen.
»T hais, warte mal«, sagte Jules. Er hatte eine schöne, tiefe Stimme. »I ch würde dir gerne meinen Freund, Richard Landry, vorstellen.« Er deutete ins Wohnzimmer und eine Gestalt, die ich bis dahin gar nicht bemerkt hatte, trat durch den Rauch von Axelles Zigarette nach vorne.
»H ey«, sagte er.
Ich blinzelte. Auf den ersten Blick schien er in meinem Alter zu sein, aber dann merkte ich, dass er sogar noch jünger war– vielleicht vierzehn oder so? Er war ein bisschen größer als ich, hatte braune Augen und auch seine Haare waren von einem warmen Braunton, durchsetzt mit von der Sonne gebleichten Strähnen. Für einen Moment konnte ich einfach nur dastehen und ihn anschauen. Er war der einzige Vierzehnjährige, den ich je gesehen hatte, der einen silbernen Stecker in der Augenbraue hatte, einen silbernen Ring im Nasenloch und außerdem noch Tattoos am Körper. Trotz der Hitze trug er ein schwarzes T-Shirt mit abgerissenen Ärmeln und schwarze Jeans.
Als mir klar wurde, dass ich ihn anstarrte, versuchte ich mich zusammenzureißen. »H i, Richard«, sagte ich und sprach den Namen dabei genauso aus, wie Jules es getan hatte. Rischaar. Er nickte mir nur zu, mit seltsamem Blick. Erwachsen irgendwie. Taxierend. Ja er war definitiv der Gewinner der Kategorie »d er seltsamste Typ, den ich je getroffen habe«. Und warum zum Geier hing er mit diesen Leuten hier herum? Vielleicht weil seine Eltern mit ihnen befreundet waren?
Axelle legte auf und erhob sich. Mit Rücksicht auf die Bullenhitze hatte sie einen schwarzseidenen Catsuit angelegt. »O h gut, du hast Richard schon kennengelernt«, sagte sie. »N a dann, seid ihr so weit?«
Jules, Daedalus und Richard nickten und Richard stellte sein Glas ab.
»W ir werden nicht lange brauchen«, sagte Axelle und schloss eine Tür auf, die ich in den ersten vier Tagen nach meiner Ankunft zunächst gar nicht bemerkt hatte. Sie war in eine tiefe Nische des Wohnzimmers eingelassen. Eine Geheimtür. Einmal wäre ich vor Schreck fast tot umgefallen, als ich allein im Wohnzimmer gesessen hatte und Daedalus plötzlich aus der Wand getreten war. Aber jetzt, da ich von der Tür wusste, konnte ich ihre Umrisse und das runde Messingschloss klar erkennen. Sie führte zu einer Treppe, so viel hatte ich mitbekommen, aber ich durfte sie nicht betreten– wenn Axelle nicht zu Hause war, war die Tür stets verschlossen.
Ich schaute schweigend zu, wie die drei Jungs hinter Axelle herliefen. Sie nahmen Drogen da oben, davon war ich überzeugt. Und nun lockten sie auch noch einen Jugendlichen in ihr Netz. Zugegeben, einen etwas seltsamen Hardcore-Jugendlichen, aber trotzdem. Die Tür fiel mit einer schweren Endgültigkeit ins Schloss und ich lief unruhig im Wohnzimmer auf und ab und fragte mich, ob ich irgendetwas tun sollte. Die drei komischen Erwachsenen waren eine Sache. Sie waren vielleicht drogensüchtig, aber wenigstens schlugen sie mich nicht oder machten mich an oder irgend so was. Aber jetzt stürzten sie einen Jugendlichen ins Verderben– sofern es an ihm noch irgendetwas gab, was man verderben konnte. Und das war definitiv falsch.
Ich wusste nicht, wohin mit meinen Sorgen, also lief ich herum und sammelte benutzte Gläser ein und stellte sie in die Spülmaschine. Axelle war die schlimmste Gammlerin aller Zeiten, und ich hatte aus purer Selbstverteidigung angefangen, hin und wieder ein bisschen aufzuräumen, um wenigstens saubere Teller zum Essen zu haben.
»M iauuu?« Minou, Axelles Kater, sprang auf die Küchentheke. Abwesend kraulte ich ihn hinter den Ohren und füllte seine Futterschale. Genau wie die versteckte Tür war auch Minou ein paar Tage nach meiner Ankunft plötzlich hier aufgetaucht.
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