Ein Kelch voll Wind
kolonialistisch. Der Ort war von einem altmodischen Charme und einer Zeitlosigkeit, an der sogar ich in meinem ganzen Elend Gefallen fand. Andererseits war es fast überall furchtbar schmutzig und manche Straßen waren auf eine hässliche, heruntergekommene Art touristisch. So zum Beispiel die Stripteaselokale auf der Bourbon Street. Ja genau, ganze Blöcke mit nur Stripteaseklubs und Bars gab es hier, und jeder, der vorbeilief, spähte hinein, selbst wenn es sich dabei um ein Kind handelte.
Aber dann gab es da auch noch die anderen Straßen, die alles andere als touristisch anmuteten, stattdessen auf eine zeitlose Art ruhig und gelassen. Welsford war erst um 1860 herum gegründet worden. Hier in New Orleans hatte man sich schon hundertfünfzig Jahre zuvor angesiedelt. Während ich Stunde um Stunde ziellos umherstreifte, wurde mir klar, dass es in dieser Stadt noch ganz andere Ecken gab, welche die meisten Leute wohl nie zu Gesicht bekamen: die privaten Gärten, die versteckten Innenhöfe, all diese kleinen Oasen, die voller Leben waren.
Und doch hing über dieser unberührten Schönheit etwas… ja was eigentlich? Gefahr? Nein, es war nicht so stark wie Gefahr. Und auch nicht so stark wie Angst. Aber wenn ich unter einem Balkon hindurchging, erwartete ich fast, dass mir ein Geldschrank auf den Kopf fiel. Wenn ein und dieselbe Person länger als einen Block hinter mir herlief, wurde ich nervös. Die Kriminalitätsrate war sehr hoch hier, doch meine Angst war nicht in der Realität verankert. Es war eher… als würde ich erwarten, dass in meinem Leben niemals mehr die Sonne schiene. Als wäre ich mitten in einen nicht enden wollenden Tunnel hineingefahren und ein Zug käme auf mich zugerast. Es war seltsam, sich so zu fühlen, andererseits aber vielleicht auch normal, nach allem, was ich durchgemacht hatte.
Ich bog nach links ab und nahm eine Abkürzung über eine schmale Straße, die genau einen Block lang war. Ich kämpfte mich durch eine Busladung Touristen, die einen Stadtrundgang unternahmen, und bog um eine weitere Ecke. Zwei Blocks die Straße runter befand sich das Haus, in dem ich zu leben verurteilt war, zumindest für die nächsten vier Monate.
Axelles Apartment war früher einmal Teil eines unglaublich prächtigen Wohnhauses gewesen. Ich schloss das schmiedeeiserne Seitentor auf. Es führte zu einer schmalen, überdachten Auffahrt, die gerade so Platz für eine Kutsche geboten hätte, für ein Auto jedoch zu knapp bemessen war. Meine Schritte hallten auf den kühlen Steinplatten wider, die sich über die Jahrhunderte abgenutzt hatten. Die Eingangstür befand sich an der Hinterseite des Hauses. Vier Gebäude umsäumten einen privaten Innenhof mit einem winzigen Swimmingpool und üppig wuchernden Blumenbeeten an den Mauern.
Seufzend und mit einer Zentnerlast auf der Brust drehte ich den Schlüssel im Schloss. Mit ein bisschen Glück wäre Axelle nicht zu Hause, sondern schon ausgegangen, und dann müsste ich nicht mit. Letzte Nacht hatte sie mich zu drei verschiedenen Bars geschleppt, und das, obwohl ich sie daran erinnert hatte, dass ich noch nicht einundzwanzig war, sondern sogar unter achtzehn. Bei allen drei Bars hatte mich der Rausschmeißer oder Türsteher gemustert und den Mund aufgemacht, wie um nach meinem Ausweis zu fragen, was ich sehr begrüßt hätte, denn dann hätte ich nach Hause und ins Bett gehen können. Aber dann hatten sie ihren Mund wieder zugemacht und mich einfach reingehen lassen. Ich schätzte, Axelle kannte sie, und sie ließen sie tun, was immer sie wollte.
Ich stieß die Tür auf und der kühle Luftzug der segensreichen Klimaanlage schlug mir entgegen. Wieder mal hatte ich kein Glück. Axelle lag auf ihrem schwarzen Ledersofa, ihre Kleider machten leise knarzende Geräusche, wenn sie sich bewegte. Sie telefonierte rauchend und sah kaum auf, als ich eintrat.
Um die Sache noch amüsanter zu machen, waren ihre beiden schrägen Freunde Daedalus und Jules auch da. Ich hatte sie quasi in dem Moment kennengelernt, als ich in New Orleans aus dem Flugzeug gestiegen war. Keiner von beiden war mit Axelle liiert, aber sie hingen trotzdem ziemlich oft hier herum. Jules sah auf eine gewisse Denzel-Washington-Art gut aus, souverän und beherrscht, und er schien in Axelles Alter zu sein, in den frühen Dreißigern.
Daedalus war alt genug, um ihr Vater zu sein, ein Mittfünfziger. Er erinnerte mich an einen Gebrauchtwagenhändler, der die ganze Zeit lächelte, dessen Lächeln jedoch nie
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