Ein Kelch voll Wind
»D ies ist einer der zentralen Punkte.«
»J a, Jules, das wissen wir«, sagte Daedalus und merkte selbst, wie gereizt er klang. Er versuchte, seine Erregung zu bändigen. Sie mussten sich zusammennehmen und an einem Strang ziehen. Er streckte seinen Arm aus und legte eine Hand auf Jules’ Schulter. »T ut mir leid, alter Freund, ich bin ein wenig bestürzt. Aber dies ist nur ein vorübergehender Rückschlag, da bin ich mir ganz sicher. Wir werden einfach noch ein bisschen recherchieren und mehrere Karten miteinander vergleichen. Daran können wir dann erkennen, wie sich die Landmarken verändert haben und wo wir suchen müssen. Es wird ein bisschen dauern, aber wir werden es schaffen.«
»A ber wir haben nur wenig Zeit«, sagte Jules.
Wieder zügelte Daedalus sein Temperament. »W ir haben Zeit genug«, antwortete er und versuchte, seiner Stimme einen festen, beruhigenden Klang zu geben. »W ir beginnen heute Nacht.« Er blickte zu Richard hinüber, der die ganze Zeit über stumm geblieben war. Dieses hübsche Kindergesicht und diese alten, alten Augen. Richard begegnete seinem Blick, nickte und schnippte den Zigarettenstummel auf die Erde. Daedalus sah, wie Jules die Lippen schürzte: Jetzt verschandelten sie auch noch die Landschaft.
Gerade als die ersten Tropfen auf die Windschutzscheibe fielen, setzte sich Daedalus ins Auto. Sie mussten diese Sache durchziehen. Dies war ihre einzige Chance. Wer wusste schon, ob sie je wieder eine bekommen würden?
Kapitel 7
Clio
Eine halbe Stunde zu spät. Das schien so ungefähr zu passen. Wenn er noch da war, dann war es ihm ernst und er bewies Durchhaltevermögen. Und wenn er schon weg war, dann sei’s drum.
(Beziehungsweise, wenn er wirklich schon weg war, würde ich ihn wie einen Hund aufspüren.)
Wir hatten uns um neun im Amadeo’s verabredet. Es war neun Uhr dreißig und das Lokal begann sich zu füllen. Beim Reingehen warf ich einen Blick auf den Türsteher und er fragte automatisch nach meinem Ausweis.
Das willst du doch gar nicht, dachte ich und schickte ihm einen schnellen Störzauber. Genau in diesem Moment lenkte etwas hinter der Bar seine Aufmerksamkeit auf sich und er drehte sich um und lief durch die Menge wie ein Bulle durch ein Weizenfeld.
Ich schlüpfte in das Lokal und lächelte, als ich ein paar Stammgäste sah. Ich spürte die bewundernden Blicke der Anwesenden und hoffte, dass André meine hautenge, weiße Jeans und das gebatikte Neckholdertop gefallen würden. Ich warf mein Haar zurück, wobei ich völlig unbekümmert wirkte, und musterte die anderen Gäste.
Ich fühlte ihn, bevor ich ihn sah. Meine Haut kribbelte plötzlich, als hätte man mir einen Elektroschock verpasst. Im nächsten Moment lag eine warme Hand auf meinem nackten Rücken, und als ich mich umdrehte, lag ich praktisch schon in seinen Armen.
»D u bist zu spät«, sagte er und sah mir so lange in die Augen, bis ich vollkommen atemlos war.
»J etzt bin ich hier.«
»J a. Was willst du trinken?« Fachmännisch manövrierte er uns durch die Menge, bis wir endlich an der Bar standen und etwas bestellen konnten. Nichts zu Hartes und nichts zu Kindisches. »E inen Margarita«, sagte ich. »O hne Salz.«
Fünf Minuten später hatten wir uns einen Weg in das Hinterzimmer des Amadeo’s gebahnt, an dessen einem Ende sich eine kleine Bühne befand. An den Wochenenden spielten hier manchmal Livebands, aber da heute ein ganz normaler Abend unter der Woche war, scharten sich die Leute um die kleinen Tische und drängten sich auf den Sesseln und Sofas, die überall im Raum verteilt standen. Es war sehr dunkel, und die Wände waren mit beflockten, roten Tapeten bedeckt, so kitschig, dass es schon fast wieder in war.
André führte mich zu einem ramponierten, lilafarbenen Zweiersofa, das bereits von ein paar Collegejungs in Beschlag genommen war. Er sagte nichts, sondern stand einfach nur da, doch irgendwie schienen sie plötzlich das dringende Bedürfnis zu verspüren, für Biernachschub zu sorgen.
Ich sank zuerst auf das Sofa, nahm Andrés Hand und zog ihn neben mich. Sein Gesicht zeigte den Anflug eines Lächelns und er wehrte sich nicht. Auf dem Sofa zögerte er nicht, sich mir zu nähern, bis sich unsere Lippen berührten. Unsere Augen waren weit geöffnet. Ich hielt meinen Drink über die Lehne des Sofas, um ihn nicht zu verschütten, doch der Rest von mir lehnte sich gegen André und wäre am liebsten in ihm versunken. Ich wollte ihn mit Haut und Haar verschlingen, unsere
Weitere Kostenlose Bücher