Ein Kelch voll Wind
Flasche. Jules blickte nicht von seinem Buch auf und tat stattdessen so, als würde er die altmodischen, französischen Wörter überfliegen. Er teilte Daedalus’ Optimismus nicht. Es gab zu viele Unwägbarkeiten. Zu viele Dinge, die schiefgehen konnten. Und die Zeit wurde knapp.
Kapitel 10
Thais
Mein Leben in der »C asa Loco« hatte sich so weit ein gespielt. Irgendwie war ich zum Butler, Hausmädchen, Laufburschen, kurz zum Mädchen für alles avanciert. Nicht, dass Axelle mir diese Rollen mit vorgehaltener Pistole aufgezwungen hätte. In die meisten schlüpfte ich zum Wohle meiner eigenen Bequemlichkeit und um zu überleben, in manche aber auch aus purer Langeweile. Und dann gab es noch ein paar Dinge, um die Axelle mich bat und die ich ohne guten Grund nicht ablehnen konnte.
Seit ich hier lebte, hatten wir für gewöhnlich richtiges Essen im Haus. Auch das Ameisenproblem in der Küche war unter Kontrolle, sodass ich im Dunkeln durchs Wohnzimmer gehen konnte, ohne mich vor lauter Ekel umzubringen.
Ich versuchte, nicht an mein Zuhause zu denken und was ich dort wohl gerade tun würde. Trotz allem übermannte mich ab und an die Sehnsucht nach meinem Dad und meinem alten Leben. An den Wochenenden war er oft mit mir Kanu fahren gewesen. Oder Ski fahren im Winter. Einmal hatte er sich dabei den Knöchel gebrochen und mir erlaubt, seinen Gips zu bemalen. Nur ich, ganz allein.
Als ich älter wurde, hatten meine beste Freundin Caralyn und ich immer irgendwelche Sommerjobs in einem Geschäft der Stadt, das gerade Leute einstellte. Ich hatte bei Friendly’s Hardware gearbeitet, bei Marybeth’s Ice Cream Shoppe, bei Joe & Joe’s Coffee Emporium – wo immer es eben gerade ging. Nach der Schule hatten wir uns im Schwimmbad getroffen, waren ins Kino gegangen oder ins nächstgelegene Kaufhaus, das ungefähr dreißig Kilometer entfernt lag.
Als ich Axelle gegenüber erwähnt hatte, dass ich nach einem Job für den Sommer suchte, hatte sie mich, wie so oft, völlig verständnislos angeschaut, zweihundert Dollar aus ihrem Geldbeutel gezogen und sie mir gegeben. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, warum ich mir keine Arbeit suchen sollte, aber von mir aus.
Nach ein paar Tagen, die ich damit verbracht hatte, im Bett zu liegen und meiner Verzweiflung zu frönen, hatte ich begriffen, dass ich etwas tun musste, irgendetwas, um mich auf Trab zu halten und nicht an mein tragisches Leben zu denken. Daher also mein plötzlicher Aktionismus und die Verwandlung zur Hausfrau des Jahres.
Auch heute hatte ich der Hitze und der feuchten, schwülen Luft getrotzt, um die Post reinzuholen– erbärmlicherweise das Highlight meines Tags. Axelle bekam tonnenweise Kataloge, und es machte mir riesigen Spaß, sie durchzublättern. Manche von ihnen warben mit freakigem Zeug für Heiden und »H exen«. Es war mir völlig unverständlich, wie man so etwas ernst nehmen konnte, aber Axelle tat es offensichtlich. Ich dachte daran, wie sie mit den Fingern über den Türrahmen gefahren war, nachdem sie mich aus meinem Albtraum geweckt hatte. Hatte sie versucht, zu zaubern? Aber wie? Und wozu?
Wie auch immer, ich liebte ihre Kleiderkataloge. Denn schließlich: Steckte nicht in jedem von uns eine kleine Leder-Queen?
Manchmal bekam ich Briefe von meinen Freunden oder Mrs Thompkins zu Hause. Ansonsten mailten wir uns meistens, aber zwischendurch schickten sie mir auch lustige Artikel und Fotos, die mich jedes Mal fast zu Tränen rührten.
Dads Anwalt hatte noch nichts über unser Grundstück verlauten lassen und Mrs Thompkins sagte, sie seien noch am Sortieren. Das klang total ätzend. Ich wollte endlich alles geregelt haben! Dann könnte ich die Möbel in einem Lager unterbringen, und wenn ich diesem Irrenhaus endlich entkommen war, mein eigenes Apartment oder Haus einrichten. Ich zählte die Tage.
Thais Allard, stand auf einem Umschlag. Er kam vom Orleans Parish Public School System. Ich riss ihn auf und sah, dass ich die Ecole Bernardin besuchen sollte, die nächstgelegene staatliche Schule. Der Unterricht begann in sechs Tagen. Meine Klassenlehrerin würde Ms Aubert heißen.
Nun also… okay. Ich hatte zwar zur Schule gehen wollen, aber ein für alle Mal zu akzeptieren, dass ich tatsächlich hier zur Schule gehen würde, war wie eine ganze Wagenladung harter Realität auf einmal. Eine nur allzu bekannte Welle der Verzweiflung überkam mich und ich lief die schmale Auffahrt zur Rückseite des Gebäudes hinauf.
Ich trat ein, wobei mir die
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