Ein Kelch voll Wind
als ein Laden in der Stadtmitte überfallen worden war, hatte ich danach geträumt, ich sei dabei gewesen und erschossen worden. Ich hatte die brennende Hitze der Kugel gefühlt, wie sie sich durch meine Brust bohrte, und die Wucht ihres Einschlags, der mich umgerissen hatte. Ich hatte das warme Blut, das mir in den Mund gelaufen war, geschmeckt. Hatte an die Ladendecke aus altmodischem Stahlblech gestarrt, während ich gespürt hatte, wie ich langsam das Bewusstsein verlor und verblutete. Aber es war nur ein Traum gewesen.
Das Ärgerlichste war, dass ich die meiste Zeit über wusste, dass ich träumte, und doch nichts dagegen tun konnte. Nur ein paar Mal, nachdem ich »C ut!« gerufen hatte, war es mir gelungen, der schrecklichen Situation zu entkommen. Aber größtenteils musste ich mich einfach damit abfinden.
Das erklärte auch, warum ich jetzt in der Mitte dieses Sumpfes oder Dschungeldings stand und dachte: Verdammte Scheiße.
Das würde mich lehren, künftig keine touristischen Postkarten mehr zu kaufen und an meine Freunde zu Hause zu verschicken. Dabei hatte ich sie eigentlich ganz lustig gefunden: die Bilder eines Sumpfgebiets in Louisiana, eines alten Herrenhauses aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg oder von der Vorderseite einer Stripteasebar auf der Bourbon Street– und überall hatte ich ein winziges Foto von mir aufgeklebt. Doch offensichtlich hatte mein Unterbewusstsein die Bilder zu gut abgespeichert.
Daher also der Sumpf. Okay, ich muss alle Gefühle zu diesem Ort loslassen, dachte ich, und einfach sehen, was dann passiert, was der Traum mir zeigen will. Ich sah mich um. Meine nackten Füße steckten bis zu den Knöcheln in einer rötlich-grün-bräunlichen Brühe, die überraschend warm war. Der Grund unter meinen Füßen fühlte sich lehmig und rutschig an, feiner Schlick drückte sich durch meine Zehen. Die Luft war dick, schwer und nass und meine Haut voll Schweiß, der nicht verdunsten konnte. Kaum ein Sonnenstrahl drang zum Erdboden vor. Ich versuchte, mich davon zu überzeugen, dass dies ein faszinierendes Beispiel eines regenwaldartigen Lebensraums war.
Dann sah ich die Geister. Durchsichtig, grau, Disney-World-Geister, die von einem Baum zum nächsten schwebten, als würden sie Verstecken in der Gespensterversion spielen. Ich sah eine Frau in altmodischer Kleidung und einen grauhaarigen Mann in seinem Sonntagsanzug. Ein hohläugiges Mädchen, das mit den Fingern Reis aus einer Schüssel aß. Und einen Sklaven mit wund gescheuerter, blutiger Haut, der in Ketten gelegt worden war. Ich begann zu frieren und all die feinen Härchen auf meinem Körper stellten sich auf. Kein Geräusch war zu hören. Kein Wasserplätschern, kein Vogelgesang, kein Blätterrauschen. Totenstille.
»O kay, ich habe genug gesehen«, sagte ich mit festem Ton zu mir selbst. »Z eit, aufzuwachen.«
Der Nebel um mich herum wurde dichter, undurchlässiger. Die Schwaden legten sich in einem dunstigen Paisleymuster um die Bäume, die Luftwurzeln und das Spanische Moos. In ungefähr zehn Meter Entfernung rollte ein Baumstamm– nein, halt, es war ein Alligator. Ein Alligator mit einem dicken, dunkelgrünen Knochenpanzer. Kurz bevor er ins Wasser glitt und direkt auf mich zukam, sah ich seine kleinen, gelben Augen.
Scheiße.
Etwas berührte meinen Knöchel. Ich schrie auf und riss mein Bein in die Luft. Voller Herzklopfen blickte ich nach unten. Eine riesige Schlange glitt um meine nackten Füße herum. Sie war gigantisch groß– ihr Umfang entsprach in etwa dem meiner Taille–, unglaublich stark, dunkel und nass. Ihr dreieckiger Kopf umrahmte zwei kalte Reptilienaugen. Ihre Zunge, die ununterbrochen über meine nackte Haut zuckte, fühlte sich an wie kleine Insekten, die meine Beine emporkrabbelten. Adrenalin floss kalt durch meine Adern, verengte mir die Kehle und beschleunigte meinen Herzschlag. Ich wollte weglaufen, doch die Schlange hielt mich fest. Mit aller Kraft stemmte ich mich gegen sie und versuchte, mich aus ihrem Griff herauszuwinden, doch vergeblich. Mein Faustschlag ließ ihren Kopf kaum zittern. Sie wand sich weiter um mich herum, bis ich komplett unter dem Schlangenkörper begraben, von ihm gefesselt war und sie auch noch die letzte Luft aus meinen Lungen herausgepresst hatte. Ich rang nach Atem, versuchte zu schreien und grub meine Fingernägel in die schweren, dicken Muskeln, die sich um meinen Hals geschlungen hatten. Mit einem Mal wusste ich, dass ich sterben würde. Hier, in diesem Sumpf. Ohne
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