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Ein Kelch voll Wind

Ein Kelch voll Wind

Titel: Ein Kelch voll Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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und einer meiner Oberschenkel eingeschlafen war, richtete ich mich langsam auf. Ich fühlte mich aufgeweicht und verquollen und wischte mir schniefend die Nase am Ärmel meines T-Shirts ab.
    »V ersuch es lieber damit.«
    Erschrocken fuhr ich zusammen und wäre beinahe hinterrücks über die Lehne der Bank gekippt. Zu meiner großen Bestürzung stand da ein Junge, ungefähr mein Alter, und hielt mir ein frisches, weißes Taschentuch hin.
    »W ie lange bist du schon hier?«, fragte ich. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie ich aussah: rot im Gesicht, mit geschwollenen Augen und rotnasig wie Rudolph das Rentier.
    »L ang genug, um zu sehen, dass du ein Taschentuch brauchst«, sagte er trocken und wedelte damit herum.
    Okay. Ich konnte es annehmen oder mich in meinen Ärmel schnäuzen. Ungnädig nahm ich das Tuch, wischte meine Nase damit ab und betupfte meine Augen. Und was nun? Gab man ein benutztes Stofftaschentuch zurück? Wie eklig. Der Typ erlöste mich aus meinem Dilemma, indem er mir das Tuch aus der Hand nahm und aufstand. Er ging zu einem Brunnen, den ich bis dahin nicht bemerkt hatte: die nordische Version einer Jungfrau Maria mit blauem Umhang, aus deren Händen ein schwacher Wasserstrahl kam.
    Der Junge hielt das Tuch unters Wasser, kam zurück und wrang es aus. Seufzend nahm ich es erneut entgegen– die Situation war sowieso schon viel zu verfahren, als dass ich sie hätte retten können. Ich wischte mir mit dem kühlen, feuchten Stoff über das Gesicht und fühlte mich gleich viel besser.
    »D anke«, sagte ich, immer noch unfähig, ihn anzusehen.
    »G erne.« Ohne auf meine Aufforderung zu warten, setzte er sich neben mich. Ich war nicht in der Stimmung, Freundschaften zu schließen, und ignorierte ihn geflissentlich. Jetzt, da ich mich ein wenig beruhigt hatte, betrachtete ich den Brunnen und die Blumen, die in den verwilderten Beeten wuchsen. Ein Gewirr aus abgetretenen Backsteinpfaden wand sich darum herum. Kleine Vögel zwitscherten in dem wilden Gebüsch, das die Mauer an der Innenseite überwucherte.
    Die Luft war auch hier feucht, jedoch einen Hauch kühler als auf der Straße. Eine Weinrebe rankte sich üppig über die Mauern und zwischen den glänzenden, grünen Blättern in einem kleineren Strauch saßen schwer duftende Blüten.
    »J asmin«, sagte der Junge, als sei er meinem Blick gefolgt. Rasch kniete er sich hin und pflückte eine hübsche weiße Blüte. Erst jetzt, während ich ihn ausgiebig musterte, sah ich, dass er dunkelbraune, fast schwarze Haare hatte. Und er war groß, wahrscheinlich einen Meter achtzig?
    »G ardenia.« Er überreichte sie mir. Ich nahm sie entgegen und atmete ihren Duft tief ein. Sie roch beinahe unerträglich süß. Zu viel Duft für eine Blume. Trotzdem, es war himmlisch! Ich steckte sie mir hinters Ohr, was den Jungen mild lachen ließ.
    Auch mir gelang ein Lächeln.
    »I ch schätze, ich bin unbefugt hier eingedrungen«, sagte ich.
    »I ch schätze, das sind wir beide«, stimmte er mir zu. »A ber ich liebe es, abends hierherzukommen, um den Menschenmassen und der Hitze zu entfliehen.«
    »A rbeitest du in der Kirche?«, fragte ich.
    »N ein, aber mein Apartment ist gleich hier oben.« Er deutete auf den dritten Stock des Nachbargebäudes. »I ch wollte dir nicht nachspionieren. Aber ich dachte, dir ist vielleicht schlecht.«
    »N ein«, sagte ich verdrießlich und dachte insgeheim: Höchstens von New Orleans.
    »I ch versteh schon«, sagte er behutsam. »M anchmal ist alles zu viel.« Er hatte eine präzise und etwas steife Art, sich auszudrücken, so als wäre er in England zur Schule gegangen. Ich blickte in seine Augen und fragte mich, ob er mich wirklich verstehen konnte.
    Nein. Natürlich nicht. Ich stand auf und hielt das Taschentuch erneut in den Brunnen. Dann kniete ich mich auf den Sockel, wrang das dünne Tuch aus und wischte mir noch einmal übers Gesicht und über den Nacken.
    »S o was sollte ich in Zukunft wohl auch dabeihaben«, sagte ich und presste das nasse Stück Stoff gegen meine Stirn.
    »D u bist die Hitze nicht gewöhnt«, sagte er.
    »N ein. Ich komme aus Connecticut«, sagte ich. »I ch bin erst seit ein paar Wochen hier. Ich bin es gewöhnt, dass sich Luft auch wie Luft anfühlt.«
    Er warf den Kopf zurück und lachte. Eigentlich sah er richtig gut aus. Sein Hals war glatt und gebräunt. Ob seine Brust wohl die gleiche Farbe hatte? Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde, und senkte verlegen den Blick. Als ich wieder aufsah,

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