Ein Kelch voll Wind
Eric konnte nicht verstehen, dass es keine Rettung für ihn gab. Er weinte fast. Er hätte eine starke Hand gebraucht, die nach seiner gegriffen hätte, jemanden, der gesagt hätte: »W ir werden dich nicht gehen lassen .« Aber so funktionierte die Kirche nicht. Hier ging es nur um den freien Willen. Und wie hätte er erklären sollen, dass sein Wille manchmal gar nicht der seine war?
Lügner. Eine leise, kalte Stimme in seinem Kopf– sein Gewissen– machte sich über ihn lustig. Dein Wille gehört dir. Du liebst diese Macht, Marcel. Du liebst es, sie auszuüben. Du liebst es, die Lebendigkeit, die Energie zu spüren, die pure Kraft, die aus deinen Händen strömt. Es gefällt dir, was du damit machen kannst. Und es gefällt dir, was du mit anderen anstellen kannst.
»N ein! Nein, das stimmt nicht! Du lügst!«, schrie Marcel und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
»M arcel?«
Es muss nicht schlimm sein, Marcel, sagte sein Gewissen. Denk an Hamlet, »d enn an sich ist nichts weder gut noch schlimm, das Denken macht es erst dazu«. Du kannst deine Kräfte für das Gute einsetzen. Du kannst die anderen überzeugen. Sie wollen doch sowieso gut sein. Das Problem ist nur Daedalus. Daedalus und Jules und Axelle. Vielleicht auch Manon. Vielleicht Richard. Aber die anderen, die stehen für das Gute. Sie folgen der Bonne Magie. Das kannst du auch. Deine Kraft könnte sie zum Guten bekehren.
»N ein, nein«, schluchzte Marcel, als sich der samtene Vorhang öffnete und Bruder Eric seine Schulter berührte. »I ch kann nicht zurückgehen.«
»M arcel, wir alle müssen uns mit unseren Dämonen auseinandersetzen«, sagte Bruder Eric sanft. »N un ruh dich aus. Du hast zu hart gearbeitet. Ich werde dir von Bruder Simon eine Suppe bringen lassen. Komm, lass mich dir helfen.«
Marcel ließ sich aus der Kapelle führen, deren Mauern seit 1348 über die Jünger Gottes wachten. Doch Marcel wusste, dass sie ihn nicht länger schützen konnten. Es war nur eine Frage der Zeit. Jeder Schritt, den er tat, brachte ihn näher an seine eigene Hölle heran und an das, was ihn in New Orleans erwartete. Was auch immer das sein würde.
Kapitel 12
Clio
»D u bist zu spät.« André bekam die ganze Power meines »v erärgerten« Blicks zu spüren, der weniger toughe Jungs für gewöhnlich aus dem Konzept brachte. Doch André grinste nur und lehnte sich zu mir herunter, um meinen Nacken zu küssen, was so ziemlich jeden rationalen Gedanken in mir zum Verstummen brachte.
»D ann sind wir wohl quitt«, sagte er mit einem so reuelosen, schelmischen Gesichtsausdruck, dass ich lachen musste und ihm beim besten Willen nicht böse sein konnte. Stattdessen gab ich ihm einen Schubs gegen die Brust– wobei es mir kaum gelang, seinen Körper überhaupt zu bewegen– und lief voraus, um meine flattrigen Nerven unter Kontrolle zu bekommen. Dort, wo ich André berührt hatte, kribbelten meine Handflächen.
»D u hast Glück, dass ich gewartet habe«, sagte ich über die Schulter. Ich hatte mir Zöpfe gemacht, um die Haare aus dem Nacken zu haben.
In ein paar kurzen Sätzen hatte André mich eingeholt. Seine Schritte glichen sich meinen an. Es dämmerte, und die Sonne war gerade dabei, langsam in der Biegung des Mississippi unterzugehen. Ein magischer Moment. Und zwar buchstäblich. Manche Riten wurden genau dann abgehalten, wenn die Kraft der Sonne der Kraft des Mondes wich. Nur so konnte man von beiden Mächten profitieren. Aber natürlich erwähnte ich das André gegenüber nicht. Warum sollte ich alle meine Geheimnisse preisgeben?
»D as ist ein hübscher Park «, sagte er.
Ich sah mich um. Der kleine Golfplatz war voll mit winzigen, künstlich aufgeworfenen Hügeln. Riesige Virginia-Eichen ragten über uns auf und spendeten mit ihren Ästen Schatten. Der Anblick war mir so vertraut, dass ich kaum noch Notiz davon nahm. »I ch mag es, dass New Orleans so grün ist«, sagte ich. »M eine Großmutter und ich sind vor ein paar Jahren nach Arizona gefahren, das war schrecklich. Ich meine, auf eine sehr trockene, staubige Art war es okay. Aber irgendwie habe ich mich ausgedörrt gefühlt. Ich mag es, Grün um mich zu haben.«
Ich presste die Lippen aufeinander. Déesse, ich hörte mich an wie ein Vollidiot. Oder ein Reiseführer. Was war nur mit mir los? Warum brachte er mich so aus dem Gleichgewicht? Ich atmete tief ein und schloss die Augen. Sammeln. Ich musste mich sammeln.
»D iese Richtung«, sagte ich schließlich und streckte die Hand
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