Ein Kelch voll Wind
und meine Schläfen pochten. Ich musste hier raus, und zwar sofort, in dieser Sekunde. Ich rannte zur Tür, die Treppen hinunter und schlug den geheimen Eingang hinter mir zu. Ich hörte ein leises Klick – er war wieder fest verschlossen. Adrenalin jagte durch meinen Körper, ließ das Herz in meiner Brust hämmern und meinen Atem schneller werden. Ich dachte nicht darüber nach, wo ich hinsollte, sondern floh einfach nur aus der Wohnung und durch das Seitentor.
Auf der Straße blieb ich abrupt stehen. Es war immer noch heller Tag, auch wenn die Sonne hin und wieder von dunklen, grauen Wolken verdeckt wurde. Touristen schlenderten vorbei, als wäre nichts Besonderes passiert, als hätte sich mein Leben in den letzten Monaten, und besonders heute, nicht unfassbar verändert. Und das nicht nur einmal, sondern so oft, dass ich es schon gar nicht mehr zählen konnte. Ich verfiel in normales Schritttempo und überquerte die schmale, gepflasterte Straße. Was tun, wohin gehen– nicht mal dafür waren meine Gedanken geordnet genug. Ich tat einfach nur einen Schritt und dann noch einen, setzte einen Fuß vor den anderen und spürte, wie sich meine Haut mit kaltem Schweiß überzog.
Schließlich fand ich mich vor dem privaten Gartengrundstück wieder, dort, wo ich Luc vor nur– wie lange war das her?– zwei Tagen getroffen hatte.
Hastig schob ich den Efeu zur Seite und drückte die kleine Holztür auf. Sobald ich mich im Inneren befand und sich die Tür hinter mir geschlossen hatte, merkte ich, wie die kalte Furcht von mir abfiel. Hier, in dem kleinen Garten, fühlte ich mich ruhiger, normaler. Sicher.
Wieder sank ich auf die marmorne Bank und spürte die angenehme Kühle auf meiner Haut. Ich wollte die Fenster der umliegenden Gebäude nicht absuchen und hoffte einfach, dass Luc mich hier sehen würde. In einem Leben voller Fremder waren er und Sylvie die einzigen Menschen, bei denen ich mich wohlfühlte.
In der Zwischenzeit saß ich einfach nur da und wartete ab, dass mein Herzschlag sich verlangsamte, mein Atem wieder regelmäßig ging. Ich konnte nicht nachdenken, konnte nicht damit beginnen, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Ich konnte nur hier sitzen und den leisen Geräuschen um mich herum lauschen: dem Plätschern des Brunnens, den paar kleinen Vögeln, die über den Jasmin hüpften, dem entfernten Klang von Pferden und Kutschen, dem Schlepper auf dem Fluss und den Straßenbahnen, welche die Gleise entlangratterten.
Ich hatte eine Schwester. Eine Zwillingsschwester. Und ich hatte eine Großmutter. Die Gewissheit überraschte mich jedes Mal erneut. Clio war komisch gewesen. Vielleicht hatte sie keine Schwester gewollt. Vielleicht wollte sie ihre Großmutter– meine Großmutter– nicht teilen. Aber bestimmt würde meine Großmutter mich doch wollen? Ich schloss die Augen und betete, dass dies alles wirklich passiert war, dass ich jetzt eine echte Familie hatte, dass meine Großmutter mich lieben und mich bei sich aufnehmen würde, wie im Märchen. Bitte lass mich nicht länger allein sein, betete ich.
Wie schon beim ersten Mal hörte ich nicht, wie sich das Tor öffnete, und als ich aufsah, kam Luc gerade auf mich zu. Ein Knoten in meiner Brust löste sich und all meine Anspannung verpuffte ins Nichts. Er war größer, als ich es in Erinnerung hatte, trug abgewetzte Jeans und ein weißes Button-Down-Hemd mit aufgerollten Ärmeln. Ein leichtes Lächeln glitt über sein Gesicht. Wieder dachte ich, dass er wirklich unfassbar gut aussah. Im gleichen Moment wurde mir klar, wie schmuddelig, staubig und verschwitzt ich aussehen musste. Na toll.
»U nd so treffen wir uns wieder.« Er setzte sich neben mich auf die Bank und lehnte sich nach vorne, um seine Arme auf den Knien aufzustützen. »D u siehst ziemlich mitgenommen aus. Schon wieder. Ist dein Leben gerade so verrückt?«
Ich lachte kurz auf und wünschte, ich hätte mir irgendwann in den letzten acht Stunden die Haare gekämmt. »J a.«
Er seufzte teilnahmsvoll, und ich wunderte mich darüber, wie unglaublich tröstlich es war, in seiner Nähe zu sein. Er konnte nicht mehr als ein Jahr älter sein und dennoch war er den meisten Jungs, die ich kannte, um Lichtjahre voraus. Während ich so über ihn nachdachte, neigte ich den Kopf zur Seite.
»W as?« Er lächelte.
»I ch habe nur gerade gedacht… Du hast eine… eine große Ruhe an dir«, sagte ich. Seine Augen verloren ihren verträumten Ausdruck und sein Blick wurde wacher. »E s ist, als würde das
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