Ein Kelch voll Wind
aus ihrem Koffer und fuhr fort, Kleidung darin zu verstauen.
»W as ist denn nur los?«
Nans ruhige graublaue Augen ruhten auf mir. »I ch muss für einige Zeit verreisen. Ich weiß noch nicht genau, für wie lange. Du musst besonders vorsichtig sein, während ich weg bin, hörst du? Vertraue nichts und niemandem. Wenn irgendjemand dir eine Nachricht überbringen will und sagt, sie sei von mir, dann glaub ihm nicht. Wenn ich mit dir Kontakt aufnehmen will, mache ich das selbst.«
Mir stand der Mund offen. »A ber wo gehst du denn hin? Was ist passiert?«
»I ch muss mich um ein paar Dinge kümmern«, sagte sie. Ich sah, dass sie einige Zauberhilfsmittel zusammengesucht hatte: Kristalle, kleine Kerzen, Duftöle und ihre Kupferarmbänder. Sie verstaute sie in einem violetten Samtbeutel, den sie mit einer Kordel zuzog.
»M orgen ist Montag«, sagte sie. »I ch erwarte von dir, dass du diese Woche ganz normal zur Schule gehst, deine Metallzauberlektion beendest, mit der wir angefangen hatten, und das Tutorium von Melysa Hawkcraft nächsten Mittwoch besuchst.
»D u wirst bis Mittwoch nicht zurück sein?«
»I ch bin nicht sicher«, sagte sie. »I ch hoffe es, aber ich kann es nicht mit Gewissheit sagen. Für den Fall, dass ich bis Donnerstag nicht wieder da bin, habe ich dir im Schrank im Arbeitszimmer einen Brief hinterlassen.« Sie lächelte mich wissend an. »D u brauchst gar nicht erst versuchen, ihn vorher zu öffnen. Er ist verzaubert, du wirst es also nicht schaffen. Aber sollte ich am Donnerstag nicht hier sein, lies ihn und folge seinen Anweisungen. Verstanden?«
»J a, schätze schon«, sagte ich unsicher. Ich hatte Nan nicht erzählt, dass ich gestern mit einem Messer bedroht worden war– sonst hätte sie mir am Ende noch verboten, mit meinen Freundinnen auszugehen. Doch angesichts ihrer kryptischen Warnungen und Instruktionen überkam mich die Angst jener Nacht von Neuem. Ich wollte nicht, dass sie einfach so ging.
Wobei. Ich würde das Haus ganz für mich alleine haben.
André könnte vorbeikommen. Und ganz sicher musste ich mich nicht fürchten, wenn er hier wäre.
Nan trat zu mir und legte mir die Hände auf die Schultern. Sie blickte mir tief in die Augen. »D ir wird nichts passieren, Clio. Du bist siebzehn Jahre alt und das Haus ist mit diversen Schutzzaubern gesichert. Pass einfach auf dich auf und frische den Zauber jeden Abend auf, bevor du ins Bett gehst. Dann wird alles gut.« Nachdenklich ließ sie ihre Hand sinken. »S oll ich Raceys Eltern fragen, ob du für ein paar Tage bei ihnen bleiben kannst?«
»N ein, lass es mich alleine versuchen«, antwortete ich. »W enn ich mich zu sehr fürchte, kann ich immer noch zu Racey gehen.«
»O kay.« Ein letztes Mal hob Nan Q-Tip aus ihrem Koffer, dann schloss sie ihn. Immer noch im Nachthemd folgte ich ihr die Treppen hinunter. Freudige Erregung stieg in mir auf. Ich hatte sturmfreie Bude! Meine Freude wurde von der Sorge um Nan überschattet, und ich fragte mich immer noch, um was sie sich da wohl »k ümmern« musste. Aber trotzdem.
An der Eingangstür setzte Nan ihren Koffer ab und wir umarmten uns. Wie aus dem Nichts überkam mich eine irrationale Furcht, dass dies das letzte Mal sein würde, dass ich sie sah oder in die Arme schließen konnte. Dass ich von nun an auf mich allein gestellt war. Tränen stiegen mir in die Augen, doch ich hielt sie mit aller Macht zurück. Alles war gut– das hatte Nan selbst gesagt. Mir würde nichts geschehen, sie würde zurückkommen. Und ich hätte ein paar nette, kurze Ferien zwischendurch. Dann würde sie zurückkehren und unser Leben würde normal weitergehen.
Ich war mir ganz sicher.
»A lso das ist wirklich seltsam«, sagte Racey stirnrunzelnd. Sie hatte mich nach dem Mittagessen im Botanika getroffen. Der Morgen nach Nans Abreise war erstaunlich still gewesen und hatte kaum vergehen wollen. Ich hatte Racey angerufen und André eine Nachricht hinterlassen. Er schien nie ans Telefon zu gehen. »U nd sie hat dir nicht gesagt, wo sie hinfährt und was sie da macht?«
»N ö. Aber sie hat die Stadt verlassen, es hat also nichts mit der Arbeit zu tun.« Als Hebamme musste Nan schon mal über Nacht wegbleiben, aber nur innerhalb der Stadt. »E s ist komisch, ein bisschen beunruhigend– aber nicht nur von Nachteil.« Ich warf Racey einen vielsagenden Blick zu.
Sie zog die Augenbrauen hoch. »I nwiefern?«, fragte sie, und ein hoffnungsvoller Unterton lag in ihrer Stimme.
»A lso zunächst mal
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