Ein Kleid von Dior, Freund mit Rolls-Royce, Mrs. Harris fliegt nach Moskau
betrachtete, schon irgendwo gesehen zu haben, vermochte ihn jedoch nicht unterzubringen.
Endlich kam Mrs. Harris aus London-Battersea, Willis Gardens Nummer 5, eilig die Treppe herauf, wo auf den Stufen bereits viele Leute lässig herumstanden, und wurde von Madame Colbert in Empfang genommen. Und nun, an dieser Stelle, ereignete sich etwas Erstaunliches.
Denn für die Stammkunden und Eingeweihten des Hauses Dior ist das Treppenhaus Sibirien, ein Platz, ebenso demütigend, als ob man vom Oberkellner eines vornehmen Moderestaurants zwischen den menschlichen Ausschuß an die zur Küche führenden Schwingtüren gesetzt würde. Die Treppe blieb stets den Neugierigen, den Schnüfflern und unwichtigen Leuten und der bedeutungslosen Presse vorbehalten.
Madame Colbert betrachtete Mrs. Harris, wie sie dort in ihrer schäbigen Aufmachung stand und wartete. Doch sie schaute durch die billigen Hüllen hindurch und sah die tapfere Frau und Schwester darunter. Sie dachte an die Einfalt und den Mut, die sie auf der Jagd nach einem Traum hierhergeführt hatten, und erkannte das ganze weibliche Verlangen nach einem unerreichbaren Stück Eleganz, den rührenden Wunsch, einmal in ihrem grauen, freudlosen Leben das Schönste in Gestalt einer Modekreation zu besitzen. Und dabei gelangte sie zu der Überzeugung, daß Mrs. Harris eigentlich die bedeutendste und würdigste Persönlichkeit in dieser Versammlung schwatzender weiblicher Wesen sei, die alle darauf warteten, die Kollektion des heutigen Tages zu sehen.
«Nein», sagte sie zu Mrs. Harris, «nicht auf die Treppe. Ich will das nicht. Kommen Sie, ich habe da drinnen einen Platz.»
Sie schob Mrs. Harris durch das Gedränge, führte sie an der Hand und brachte sie in den Hauptsalon, in dem bis auf zwei alle goldenen Stühle des Doppelkreises besetzt waren. Madame Colbert reservierte stets ein, zwei Plätze für den Fall, daß unerwartet einmal eine sehr bedeutende Persönlichkeit käme oder eine bevorzugte Kundin einen Bekannten mitbrächte.
Sie zog Mrs. Harris durch den Raum und setzte sie auf einen freien Stuhl in der vorderen Reihe. «So», sagte Madame Colbert, «von hier aus können Sie alles sehen. Haben Sie Ihre Einladung bei sich? Hier ist ein kleiner Bleistift. Wenn die Mannequins eintreten, ruft das Mädchen an der Tür den Namen und die Nummer des Kleides aus — englisch. Schreiben Sie sich die Nummern von den Kleidern auf, die Ihnen am besten gefallen, und hinterher sprechen wir uns.»
Geräuschvoll machte Mrs. Harris es sich auf dem graugoldenen Stuhl bequem. Sie stellte die Handtasche auf den freien Platz neben sich und zückte erwartungsvoll Karte und Bleistift. Dann nahm sie mit zufriedenem und glücklichem Lächeln ihre Nachbarn in Augenschein.
Wenn Mrs. Harris das auch nicht wußte, so enthielt der Hauptsalon doch einen Querschnitt durch die Hautmonde der Welt, einschließlich eines kleinen Teils des Adels: Ladies und Right Honourables aus England, Marquisen und Comtessen aus Frankreich, Baroninnen aus Deutschland, Principessas aus Italien, neureiche Frauen französischer Industrieller, altreiche Frauen südamerikanischer Millionäre, Einkäufer aus New York, Los Angeles und Dallas, Filmschauspielerinnen, Filmstars, Bühnendichter, reiche Nichtstuer, Diplomaten und viele andere.
Der Platz zu Mrs. Harris’ Rechten war von einem grimmig aussehenden alten Herrn mit schneeweißem Haar und Schnurrbart besetzt; seine buschigen Brauen stachen wie Federn aus dem Gesicht, und die Augen über den dunklen Tränensäcken waren von durchdringendem Blau und sahen erstaunlich munter und jung aus. Die Schuhe waren spiegelblank, und die Weste trug einen weißen Vorstoß; im Knopfloch seines dunklen Jacketts steckte etwas, was Mrs. Harris für eine winzige Rosenknospe hielt und was sie sowohl fesselte als auch verblüffte, da sie noch niemals einen Herrn gesehen hatte, der etwas Derartiges trug. So kam es, daß der alte Herr sie dabei ertappte, wie sie ihn anstarrte.
Die schmale Adlernase richtete sich auf sie; die kühnen blauen Augen blickten sie prüfend an, doch die Stimme, mit der er sie in ausgezeichnetem Englisch anredete, war matt und müde. «Ist etwas nicht in Ordnung, Madam?»
Es entsprach nicht Mrs. Harris’ Natur, sich von irgend jemand in Verlegenheit oder aus der Fassung bringen zu lassen, doch der Gedanke, vielleicht ungezogen gewesen zu sein, machte sie reumütig, und sie schenkte dem alten Herrn ein Lächeln, das um Entschuldigung bat.
«Nein so was, da
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