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Ein Kleid von Dior, Freund mit Rolls-Royce, Mrs. Harris fliegt nach Moskau

Ein Kleid von Dior, Freund mit Rolls-Royce, Mrs. Harris fliegt nach Moskau

Titel: Ein Kleid von Dior, Freund mit Rolls-Royce, Mrs. Harris fliegt nach Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
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starr ich Sie wahrhaftig an, als ob Sie eine Wachspuppe wären», sagte sie abbittend, «ein Benehmen hab ich aber auch! Ich dachte nämlich, das wär’ne Rose da in Ihrem Knopfloch. Eine hübsche Idee.» Dann setzte sie erläuternd hinzu: «Ich mag Blumen sehr gem.»
    «Wirklich?» sagte der Herr. «Das ist schön.» Alle Feindseligkeit, die ihr Anstarren vielleicht hervorgerufen haben mochte, wurde durch die reizende Unschuld ihrer Antwort zerstreut. Der Herr betrachtete seine Nachbarin mit erwachtem Interesse und sah nun, daß es ein ungewöhnliches Geschöpf war, das er nicht gleich einzuordnen wußte. «Vielleicht wäre es besser», fuhr er fort, «wenn es tatsächlich eine Rose wäre — und keine Rosette.»
    Diese Bemerkung verstand Mrs. Harris nicht, doch die freundliche Art, in der sie gemacht wurde, zeigte, daß ihr die Unhöflichkeit verziehen worden war, und der winzige Schatten, der auf ihre heitere Stimmung gefallen war, verflüchtigte sich. «Ist das nicht fabelhaft hier?» sagte sie, um die Unterhaltung nicht einschlafen zu lassen.
    «Ah, Sie spüren die Atmosphäre auch.» Verwirrt zerbrach sich der alte Herr den Kopf und versuchte eine Verbindung herzustellen zwischen dem, was ihn beschäftigte, und einer verschwommenen Erinnerung aus seiner Jugend, in der er zur Abrundung seiner Erziehung zwei Jahre an einer englischen Universität studiert hatte. Er entsann sich eines finsteren, schäbigen Stübchens, kalt und streng, mit dunklem Holz getäfelt, das sein Schlaf- und Arbeitszimmer gewesen war. Es ging von einem ebenso finsteren Korridor ab, auf dem unpassenderweise stets ein Eimer gestanden hatte.
    Mrs. Harris’ muntere, kleine Augen wagten es nun, den alten Herrn anzusehen; sie durchdrangen die Grimmigkeit seines Äußeren, den weißen Haarkranz, die drohenden Brauen und die tadellose Kleidung, bis sie auf die Wärme in seinem Innern stießen. Sie überlegte, weshalb er wohl hier sei, denn wie er so dasaß, die Hände über einem Stock mit goldenem Knauf gefaltet, wirkte er ganz wie ein Mensch, der ohne Begleitung war. Wahrscheinlich wollte er ein Kleid für seine Enkelin aussuchen, dachte sie und nahm, wie es ihrer Art entsprach, Zuflucht zu einer offenen Frage, um ihre Neugier zu befriedigen. Doch um ihr Wohlwollen zu beweisen, beförderte sie die vermutliche Empfängerin um eine Generation weiter.
    «Wollen Sie sich ein Kleid für Ihre Tochter ansehen?» fragte Mrs. Harris.
    Der alte Mann schüttelte den Kopf, denn seine Kinder waren fern und weit verstreut. «Nein», erwiderte er, «ich komme von Zeit zu Zeit hierher, weil ich gern schöne Kleider und schöne Frauen sehe. Das erfrischt mich, und dann fühle ich mich wieder jung.»
    Mrs. Harris nickte beifällig. «Das stimmt!» sagte sie. Dann beugte sie sich mit dem angenehmen Gefühl, einen Menschen gefunden zu haben, dem sie sich anvertrauen konnte, zu ihm hinüber und flüsterte: «Ich bin den weiten Weg von London herübergekommen, um mir ein Dior-Kleid zu kaufen.»
    Ein Blitz der Erleuchtung — zur Hälfte der wunderbare Scharfblick des Franzosen, zur Hälfte die Vollendung der Erinnerung, die ei sich heraufzubeschwören bemüht hatte — durchschoß den alten Herrn: nun wußte er, wer und was sie war. Das alte Bild von dem dunklen, fleckigen Korridor und den knarrenden Treppenstufen, auf deren Absatz der Eimer stand, tauchte deutlich auf, doch nun sah er eine Gestalt neben dem Eimer: eine große schlampige Frau in schmutzigfeuchtem Kittel, überlangen Schuhen, mit rotgrauem Haar und sommersprossigem Gesicht, die einsame Beherrscherin einer Batterie von Besen, Mops, Staubwedeln und Scheuerbürsten. In dem ganzen düsteren Bereich der Universitätsräume war sie für ihn die einzige heitere Note gewesen.
    Eine Schlampe, der der Ehemann weggelaufen war, die einzige Stütze ihrer fünf Kinder — und dennoch unveränderlich guter Laune, mit der Neigung zu einer Art bissiger, aber glaubwürdiger und nüchterner Philosophie, die sie zwischen Bemerkungen über das Wetter, die Regierung, die Unterhaltskosten und die Wechselfälle des Lebens von sich gab. «Nimm, was du kriegen kannst; Bettler dürfen nicht wählerisch sein!» Das war einer ihrer Aussprüche. Er erinnerte sich, daß sie Mrs. Maddox hieß, doch für ihn und einen andern jungen Franzosen im College war sie Madame Mop: Freundin, Beraterin, Nachrichtenzuträgerin, Quelle für Klatsch und College-Neuigkeiten.
    Er erinnerte sich auch, daß er unter dem komischen Äußeren sehr bald

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