Ein Kleid von Dior, Freund mit Rolls-Royce, Mrs. Harris fliegt nach Moskau
kaufte Kleider nicht, weil sie sie hebte, sondern weil sie damit prahlen wollte. Doch immerhin gab sie Geld aus. Um Zeit zu gewinnen, sagte Madame Colbert: «Es tut mir leid, Madame, aber ich erinnere mich nicht, daß ich diesen Platz reservieren sollte, doch ich will sehen, was ich tun kann.»
«Sie brauchen nicht erst zu sehen! Ich sagte Ihnen ja, ich wünsche diesen Platz für eine Freundin. Tun Sie sofort, was ich Ihnen sage. Sie müssen den Verstand verloren haben, so eine Person neben mich zu setzen.»
Der alte Herr neben Mrs. Harris wurde rot; die Farbe stieg vom Hals über dem Kragen und verbreitete sich bis zu den Ohren. Seine blauen Augen wurden eisig wie der weiße Haarkranz.
Madame Colbert wollte fast schon nachgeben. Sicher würde die kleine Putzfrau aus London Verständnis haben, wenn sie ihr erklärte, sie hätte sich mit den Vorbestellungen geirrt und der Stuhl sei besetzt gewesen. Schließlich würde sie vom Treppenabsatz ja alles ebensogut sehen können. Ihr Blick irrte zu Mrs. Harris hinüber, die da in ihrem schäbigen Mantel und dem albernen Hut saß. Und sie, die Ursache der peinlichen Situation, die kein Wort von dem Gespräch verstand, schaute mit dem sonnigsten und vertrauensvollsten Apfelbackenlächeln zu Madame Colbert auf. «Sie sind wirklich ein liebes Geschöpf», sagte sie, «mich hier zwischen all die netten Leute zu setzen. Auch wenn ich selber Millionärin wäre, könnte ich nicht glücklicher sein.»
Ein besorgt aussehender Mann in gestreiften Hosen und Gehrock erschien im Eingang des Salons. Die zornige Frau rief ihm zu: «Monsieur Armand! Kommen Sie doch sofort mal her, ich muß mit Ihnen sprechen. Madame Colbert hat die Unverschämtheit besessen, mich neben diese fürchterliche Frau zu setzen. Bin ich gezwungen, mir das gefallen zu lassen?»
Aufgeregt über die Heftigkeit des Angriffs, warf Monsieur einen Blick auf Mrs. Harris und machte dann, zu Madame Colbert gewandt, heimlich Bewegungen mit den Händen, wobei er sagte: «Sie haben es ja gehört. Sorgen Sie, daß sie hinauskommt.»
Das zornige Rot auf dem Gesicht des grimmigen alten Herrn vertiefte sich zu Purpur, er hob sich halb vom Stuhl und öffnete den Mund zum Sprechen, als Madame Colbert ihm bereits zuvorkam.
Viele Gedanken und Befürchtungen waren der Französin durch den Kopf geschossen: ihre Stellung, das Ansehen der Firma, der mögliche Verlust einer wohlhabenden Kundin, Folgen einer Respektsverletzung. Doch wenn Monsieur Armand auch ihr Vorgesetzter war, in diesem Stockwerk führte sie das Kommando. Und nun, da die nichtsahnende Mrs. Harris der Gegenstand eines grausamen Angriffs geworden war, verspürte die Chefverkäuferin mehr denn je ein Gefühl der Verwandtschaft mit dieser sonderbaren Besucherin von der anderen Seite des Kanals, das sie fast überwältigte. Was auch geschah, hinausdrängen konnte und wollte sie sie nicht. Das wäre genauso, als ob man ein unschuldiges Kind geschlagen hätte. Sie schob ihr festes, rundes Kinn vor und erklärte, zu Monsieur Armand gewandt: «Madame hat jedes Recht, hier zu sitzen. Sie ist eigens von London herübergeflogen, um ein Kleid zu kaufen. Wenn Sie wünschen, daß sie entfernt wird, dann tun Sie es selber; ich tue es nicht.»
Mrs. Harris erriet, daß über sie gesprochen wurde, und erkannte auch den Namen ihrer Vaterstadt, ahnte jedoch nicht das mindeste von der Bedeutung des Gesprächs. Sie nahm an, daß Madame Colbert den Herrn im Gehrock mit der Geschichte ihres Strebens bekanntgemacht habe. Deshalb schenkte sie ihm ihr gewinnendstes Lächeln und zwinkerte ihm außerdem noch heftig und verständnisvoll zu.
Der alte Herr hatte inzwischen seinen Platz wieder eingenommen und seine normale Farbe zurückerhalten, doch er starrte Madame Colbert an, und sein Gesicht strahlte in grimmiger und zorniger Freude. Er hatte Mrs. Harris zeitweise vergessen, weil er etwas Neues — oder richtiger: etwas sehr Altes und fast Vergessenes — entdeckt hatte: eine Französin von selbstlosem Mut, von Rechtschaffenheit und Integrität.
Monsieur Armand dagegen zögerte — und war besiegt. Sowohl Madame Colberts Festigkeit wie Mrs. Harris’ Zwinkern hatten ihm den Mut genommen. Einige der besten Kunden des Ateliers Dior, das wußte er, waren sehr seltsam aussehende und exzentrische Frauen. Madame Colbert mußte wissen, was sie tat. Mit einer Geste der Ergebung hob er die Hände und floh vom Schlachtfeld.
Die Spekulantengattin schmetterte: «Sie werden noch darüber hören, Madame
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