Ein Kleid von Dior, Freund mit Rolls-Royce, Mrs. Harris fliegt nach Moskau
heiter ansprachen und ihre Meinung über etwas hören wollten, das gerade diskutiert wurde. Aber im allgemeinen ließ man sie fühlen, daß sie ein Eindringling war. Es fiel ihr auch auf, daß oft, wenn sie einen Platz für sich auf einer der Hinterbänke ergattern konnte, die Sitze zu beiden Seiten von ihr geheimnisvoll leer blieben.
«Was habe ich nur?» fragte sie sich. «Eine ansteckende Krankheit? Was ist geschehen?»
Erst vor ein paar Wochen war das ganze Land in Harnisch geraten, weil ein gemeiner Franzose gewagt hatte, ihr vorzuwerfen, daß sie einmal anständig ihren Lebensunterhalt verdient hatte mit Müllschippe, Mop und Besen. Aber isoliert wie sie war, allein und ohne Freunde in dieser erhabenen Versammlung, war es ihr unmöglich, herauszubekommen oder auch nur zu ahnen, daß das Haus beleidigt war.
Denn das alte Unterhaus, obwohl es sechshundertdreißig Mitglieder zählte, hatte eine eigene Persönlichkeit, die denen, die ihm angehörten, oft launisch und eigensinnig erschien. Für sie war das Haus eine «sie». «Sie» hatte einen typisch weiblichen Sinn für Humor, insofern daß sie sich nur auf Kosten anderer belustigte, zumal wenn Mitglieder einander beschimpften oder spitze Pfeile witziger Worte aufeinander abschossen. Aber nicht auf Kosten von ihr. Vor allem liebte sie es nicht, daß man sie zum Narren hielt. Die Art, in der Mrs. Harris gewählt worden war, war ein schlechter Scherz, und das Haus war dadurch ein wenig lächerlich gemacht worden.
Wie es unvermeidlich geschehen mußte, kam die Geschichte von dem mißlungenen Komplott ans Licht, und in dem einen oder anderen Gespräch drang sie praktisch an jedes Ohr, nur natürlich nicht an das von Ada Harris. Die Bänke, die Dachbalken und die Decke der Kammer, ganz zu schweigen vom Restaurant, dem Rauchzimmer, der Bibliothek und den vielen anderen Räumen in dem Labyrinth schienen die Reaktion der Mitglieder auf die merkwürdige und zufällige Wahl einer Kandidatin, die nie in das Haus hätte kommen dürfen, für sich zu behalten.
Jedenfalls war die Sache auf jene zurückgeschlagen, die das Komplott angezettelt hatten, und sie waren bestraft worden. Diese Art von Scherzen schätzte das Haus nicht.
Und so wurde Mrs. Harris ein einsames Stück Treibgut, das der Sturm in einem wütenden Meer hin und her schleudert. Sie versuchte zu verstehen, wovon gerade die Rede war, die heftigen Debatten, die Fragen, die gestellt wurden, und wenn es zur Abstimmung kam, stimmte sie mit ab, ohne zu wissen, worum es ging oder auf welcher Seite sie war und warum, was den Zorn und die. Verachtung derer, die gegen sie waren, nur noch steigerte. Einmal beging sie aus purer Unwissenheit den unverzeihlichsten Fehler.
Ein Mitglied, das es sehr eilig hatte und sie offensichtlich mit jemand anderem verwechselte, war auf sie zugekommen und hatte sie gefragt: «Sind wir heute abend Partner?» Und als sie nickte, da sie glaubte, er habe gemeint, ob sie am Abend dasein; werde, war er befriedigt verschwunden. Sie war tatsächlich an jenem Abend dagewesen und hatte abgestimmt, ohne auch nur zu ahnen, daß sie sich gegen ein ungeschriebenes Gesetz vergangen hatte, nach dem zwei Mitglieder gegnerischer Parteien übereinkommen, von einer Sitzung fernzubleiben, und damit ihre Stimmen neutralisieren. Dieses Vergehen wurde vom Hause als schlimmer angesehen, als einen Fuchs mit einem Knüppel totzuschlagen oder eine Fasanenhenne einen Baum hinaufzujagen und sie dann mit einem Gewehr mit Zielfernrohr herunterzuschießen.
Aber zu all dem kam noch die schlimmste Einsamkeit, die Mrs. Harris seit der Zeit vor vielen Jahren, als ihr Mann gestorben war, erlebt hatte. Denn die normalen Sitzungszeiten des Parlaments waren montags bis donnerstags von halb drei bis halb elf, und außerdem fand am Freitag eine Sitzung statt, die von morgens elf Uhr bis nachmittags halb fünf dauerte.
Es kam jedoch selten vor, daß das Haus nicht viel länger tagte. Manchmal bis weit nach Mitternacht. Mrs. Harris lernte, daß Parlamentsmitglieder kaum ein geselliges Leben führen konnten. Das bedeutete, daß es nicht nur mit den Fernsehabenden bei Tee vorbei war, sondern auch mit ihren abendlichen Plauderstunden mit Mrs. Butterfield.
Und obwohl sie die Wochenende frei hatte, entdeckte Mrs. Harris, daß sie plötzlich den Kontakt mit denen scheute, die sie schon so lange kannte und liebte. Sie lebte in der ständigen Angst, daß Mrs. Butterfield oder eine Nachbarin sie fragen würde, was im Unterhaus vorging,
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