Ein König für San Rinaldi
KAPITEL
„Aber das geht doch nicht“, hielt Natalia dem Fahrer der Limousine vor, die auf dem Rollfeld gleich neben dem gelandeten Jet stand. „Ich will nicht in den Palast fahren. Bringen Sie mich nach Hause.“
„Es tut mir leid“, erwiderte der Chauffeur entschieden, „aber meine Anweisung lautet, Sie in den Palast zu bringen.“
Frustriert blickte sie durch die getönten Scheiben nach draußen. Sie begriff gar nichts mehr. Was war denn bloß los? Wieso holte kein Mitarbeiter des Hofstaats sie ab, der ihr alles erklärte?
Der blaue Himmel über San Rinaldi verlor bereits sein Leuchten. Der Abend nahte rasch, während die Limousine über die breite Straße vom Flughafen in Richtung Innenstadt fuhr. Vor ihnen funkelten die Lichter der Stadt, über der imposant das Königsschloss auf einem Felsen thronte.
Der Chauffeur lenkte den Wagen von der Zufahrtsstraße, die ins Zentrum führte, und bog in eine Seitenstraße. Von dort aus fuhren sie zur Rückseite des Palastes. Natalia schüttelte den Kopf. Sie wurde dringend nach Hause zitiert. Ihre Anwesenheit auf San Rinaldi war offenbar wichtig genug, dass ein Privatjet geschickt wurde. Sie selbst war allerdings so unwichtig, dass man sie nur durch einen Hintereingang einließ.
Wahrscheinlich nutzten gewöhnlich Lieferanten die Zufahrt. Das Tor war so schmal, dass der Chauffeur die Limousine konzentriert und langsam hindurchfuhr. Keine Laterne erhellte den Hof, in dem sie hielten, alle Fensterläden waren geschlossen. Es wirkte höchst ungastlich und wenig freundlich.
Der Fahrer stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Tür. Trotz allem schenkte Natalia ihm ein herzliches Lächeln. Er befolgte schließlich nur seine Anweisungen.
Diese seltsame Szenerie und Geheimnistuerei war typisch für König Giorgio. Genau so führte er seinen Hofstaat. Wer dem Regenten nahestand, verglich ihn oft mit Machiavelli. Der greise König spielte liebend gern die Leute gegeneinander aus. So war es schon immer gewesen, und Natalia wusste das.
Allerdings empfand sie auch Mitgefühl für König Giorgio, seit ein Kandidat für die Nachfolge nach dem anderen ausgeschieden war. Der König mochte unnahbar und stolz sein, aber er war auch schon sehr alt. Bestimmt fürchtete er um die Zukunft San Rinaldis. Er sorgte sich darum, was geschah, falls er starb, ohne einen geeigneten Thronfolger gefunden zu haben.
Er mochte Fehler haben, sogar viele, doch niemand hatte jemals an seinen Gefühlen für das Land gezweifelt. Diese Liebe für San Rinaldi empfand sie auch, und das wusste er. Zu ihrer Überraschung hatte er ihr gestanden, dass sie ihn an Königin Sophia erinnerte. In Natalia erkannte er einige Charakterzüge und das elegante Auftreten seiner ersten Ehefrau wieder.
Das freute sie und schmeichelte ihr. Die erste Frau des Königs war vom Volk geliebt und von allen, die sie genauer gekannt hatten, hoch geschätzt worden. Wahrscheinlich hatte König Giorgio sich deshalb für Natalia entschieden: Sie sollte seinen Sohn heiraten, weil sie Königin Sophia ähnlich war.
Eine Tür öffnete sich, und ein Mann kam auf Natalia zu. Geblendet vom Licht, das aus dem Flur drang, erkannte Natalia den Hofminister erst, kurz bevor er vor ihr stand.
„Wieso diese Eile und die Geheimhaltung?“, fragte sie sofort. „Ich will endlich wissen, was geschehen ist.“
„Kommen Sie bitte mit“, erwiderte der Minister. „Ich erkläre Ihnen alles auf dem Weg zu Ihrer Unterkunft.“
Sie hatte schon über die zwei Stufen zum Hintereingang gehen wollen, blieb jedoch stehen und drehte sich überrascht um. „Zu meiner Unterkunft?“, fragte sie erstaunt.
Der Hofminister verzog keine Miene. „Da Sie offiziell als Verlobte von König Giorgios Nachfolger vorgestellt werden, ist es nur richtig und notwendig, dass Sie eigene Räume im Palast bewohnen.“
„Aber ich habe mein eigenes Zuhause und werde …“
„Das gehört für Sie der Vergangenheit an“, fiel ihr der Hofminister ins Wort. „Gräfin Ficino wurde Ihnen als Hofdame zugeteilt. Sie ist ab sofort für Ihren Tagesablauf zuständig, kümmert sich um Ihre Garderobe und organisiert Ihre öffentlichen Auftritte. Die Gräfin wird Sie außerdem in allen Fragen des Protokolls beraten und instruieren. Seine Hoheit Prinz Kadir hat sich bedauerlicherweise entschlossen, vorzeitig einzutreffen.“
„Prinz Kadir ist schon hier?“, fragte Natalia überrascht. „Aber ich dachte …“
„Nun ja, der Prinz hatte es offenbar eilig, seinen Vater
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